Oper Zürich: Bitte sehen Sie ein Bild auf dieser weissen Leinwand

Der Zürcher Komponist Stefan Wirth hat aus dem Bestseller «Das Mädchen mit dem Perlenohrring» ein Künstlerdrama gemacht. Anspruch und Rahmen des grossangelegten Werks sind stimmig. Doch bei der Uraufführung fehlt es an Farben.

Christian Wildhagen
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Das wird jetzt ein bisschen weh tun, aber es dient der Kunst: Vermeer (Thomas Hampson) sticht Griet (Lauren Snouffer) Ohrlöcher für die berühmten Perlenohrringe.

Das wird jetzt ein bisschen weh tun, aber es dient der Kunst: Vermeer (Thomas Hampson) sticht Griet (Lauren Snouffer) Ohrlöcher für die berühmten Perlenohrringe.

Toni Suter

Wer hätte das gedacht: Wolken sind nicht bloss weiss oder grau – sie sind oft auch ein wenig blau getönt, manchmal ist da eine Spur von Gelb, und wer noch genauer hinschaut, erahnt sogar den einen oder anderen Pinselstrich von lichtem Grün. Dies alles sind keine Phantastereien, auch keine politischen Statements; vielmehr befinden wir uns in einer Schule des Sehens. Und zwar im holländischen Delft des Jahres 1665: Der Maler Jan Vermeer, einer der grössten der Zunft, lehrt da eine junge Frau die Kunst des scharfen Blicks.

Sie versteht ihn sofort, denn sie hat selbst immer schon ein Auge für Farben besessen. Doch daraus Kunst zu machen wie er – das wird ihr, der Dienstmagd aus verarmter Familie, wohl niemals vergönnt sein. Dennoch bleibt ihr Verhältnis zu dem Maler keineswegs einseitig: Bald wird sie umgekehrt ihn inspirieren und als klassische Muse seine Schaffenskraft wiedererwecken, mehr noch: Mit einem entscheidenden Accessoire sorgt sie dafür, dass das heimlich gemalte Porträt von ihr zu einer Ikone der Kunstgeschichte wird – Vermeers «Meisje met de parel», zu Deutsch «Das Mädchen mit dem Perlenohrring».

Der Blick der jungen Frau mit dem exotischen blauen Turban, ihr rot schimmernder Mund und die scheinbar schwebende Perle am linken Ohr faszinieren die Betrachter des heute im Mauritshuis in Den Haag gehüteten Bildes seit über 350 Jahren. Doch anders als bei Leonardos ähnlich berühmter «Mona Lisa» hat man bei der Schönen Vermeers keinen Schimmer, wer die «Meisje» war.

Die amerikanische Autorin Tracy Chevalier hat diese Leerstelle 1999 mit einem Roman gefüllt, in dem sie die fiktive Lebensgeschichte der Magd Griet ersann, mit allerlei historischem Kolorit und poetischen Ausschmückungen versehen. Der Zürcher Komponist Stefan Wirth hat aus dem Bestseller «Girl with a Pearl Earring» nun im Auftrag der Oper Zürich ein Bühnenwerk gemacht, das am Sonntag seine Uraufführung erlebte. Danach fragt man sich: Naht Rettung für die mutlos gewordene Oper der Gegenwart womöglich aus der Kunst?

Den Rahmen neu füllen

Tatsächlich wagt Stefan Wirth etwas, das heute im Musiktheater nicht mehr selbstverständlich ist: Er erzählt eine Geschichte, linear und zielgerichtet, mit klarem Plot und vielversprechenden Charakteren. Sein Werk ist abendfüllend – gut zwei Stunden lang ohne Pause – und bringt neben einem umfangreichen Sängerensemble und reich besetztem Orchester die gesamte Verzauberungsmaschinerie der Oper zum Einsatz. Die Botschaft scheint klar: Hier geht es nicht, wie in vielen Bühnenwerken nach 1945, um irgendwelche Nischendiskurse, und schon gar nicht um Welterklärungsmodelle mit gewaltigem theoretischem Überbau, sondern schlicht ums Erzählen und um die Geschichte selbst.

Wie bei Chevaliers originellem Spiel mit den Fakten der Kunstgeschichte meint das bei Wirth auch ganz ursprünglich: das Publikum fesseln und unterhalten. Er erfindet dafür die Oper nicht neu. Wirth begreift sie vielmehr als einen gegebenen Rahmen, den man nach wie vor mit Farben und mit Leben füllen kann. Das erinnert an den viel unbefangeneren Umgang mit der Tradition, wie er im angloamerikanischen Raum gepflegt wird – kein Wunder: Hat Wirth doch prägende Impulse durch Komponisten der Britten-Nachfolge wie Oliver Knussen und George Benjamin empfangen, denen einige der wenigen repertoirefähigen Opern der vergangenen Jahre gelungen sind.

Brittens komplexe, aber zugängliche Musik und seine zeichenhafte Art, mit Klängen Vorgänge auf der Bühne atmosphärisch zu vertiefen, sind denn auch sehr präsent bei dieser Uraufführung. Zugleich hört man, dass sich Wirth ebenso mit Alban Berg und der Nachkriegsavantgarde bis hin zu Helmut Lachenmanns instrumentaler Musique concrète auseinandergesetzt hat. Aus diesem Fundus schafft Wirth mit beeindruckendem Handwerk und ohne Scheu vor eklektischen Momenten eine Musiksprache, deren Einfallsreichtum sich vor allem im Orchester manifestiert.

Hier entwickelt sich, vom Dirigenten Peter Rundel und der Philharmonia Zürich feinsinnig aufgefächert, ein fast ununterbrochener Bewusstseinsstrom, der das Geschehen vorantreibt und kommentiert. Darin eingebunden sind die Singstimmen der Protagonisten, die unerwartet gesanglich, ja sogar melodisch geführt werden – auch dies ist in der Oper der Gegenwart kaum mehr selbstverständlich. Man hört daran wohl auch Wirths Erfahrung als Liedbegleiter.

Vor allem Lauren Snouffer, die Sängerin der Titelrolle, weiss die Expressivität der Gesangslinien mit ihrem blühenden Sopran zu nutzen. In ihrer Darstellung der Griet wird die Zerrissenheit der Figur zwischen den banalen Hausarbeitspflichten als Dienstmädchen und ihren aufkeimenden künstlerischen Ambitionen berührend deutlich. Überdies verfügt Snouffer szenisch über ein reicheres Mienenspiel als die etwas wächsern-maskenhafte Scarlett Johansson in der gleichnamigen Verfilmung von Peter Webber.

Gegenüber diesem bildersatten Film von 2003 hat die Griet der Oper einen Vorteil: Wie in Chevaliers Romanvorlage verfolgen wir das Geschehen gleichsam mit ihren Augen. Dazu tritt Griet ein ums andere Mal wie eine Erzählerin neben ihre Bühnenrolle. So auch am Ende, wenn sie nüchtern berichtet, dass sie die Ohrringe, die ihr Vermeer vermacht hatte, für dreissig Gulden verschachert hat. Dies ist der lakonische Schluss einer Rahmenhandlung, in der wir erfahren, dass Griets späteres Leben an der Seite des Schlachtermeisters Pieter (Yannick Debus), mehrere hungrige Kinder inklusive, wohl auch nicht glücklicher verlaufen wird.

Unscharfe Charaktere

Mit der Fokussierung der Erzählperspektive auf Griet handelt der Librettist Philip Littell dem Stück allerdings ein Problem ein. Da die junge Magd wie auf Vermeers Bild mit treuherzig-skeptischem Blick durchs Leben geht und nie weiss, wer ihr im Haus des Malers gerade wohlgesinnt ist, erscheinen alle anderen Figuren ambivalent. Das funktioniert literarisch und im Film, weniger gut hingegen auf der Bühne; denn die Oper benötigt nicht zuletzt im Hinblick auf die musikalische Charakterzeichnung eine klare Profilierung der handelnden Personen. Hier bleiben Text und Vertonung den Hörern manches schuldig.

Am plastischsten wirkt neben Griet noch die Malergattin Catharina Vermeer, die Laura Aikin grandios als verhärmte, mit pausenlosen Schwangerschaften gestrafte Frau voller Misstrauen zeigt. Anders als im Film wird sie zur eigentlichen Gegenspielerin Griets. Schon die Schwiegermutter Maria Thins, die Judy Parfitt in Webbers Film als geschäftstüchtige, statusbewusste Herrin des Hauses zeichnete, bleibt bei Liliana Nikiteanu mangels interessanter Szenen nur ein grundgutes Grossmütterchen. Dabei hätte sie das Potenzial, eine zweite Kabanicha wie in Janáčeks «Katja Kabanowa» zu werden.

Am stärksten hat die Rolle des Vermeer, immerhin die zweite Hauptpartie, unter der unscharfen Charakterisierung zu leiden. Ihre Ambivalenz ist im Roman angelegt – Thomas Hampson jedoch, eigentlich bestens bei Stimme, kann weder die künstlerische Faszination noch die erotische Anziehung durch Griet angemessen zum Ausdruck bringen, weil ihm die Oper schlicht zu wenig Gelegenheit dazu gibt. Der gemeinsame Blick durch die Camera obscura oder das vieldeutige Stechen des Ohrlochs für die Perle – zwei Höhepunkte in Buch und Film – bleiben hier blosse Vorgänge. Und leider versagt sich auch die Musik, mit ein bisschen Magie über das reale Geschehen hinauszudeuten.

Mit mehr Mut zu einer klaren Bildersprache hätte vielleicht die Inszenierung helfen können. Stattdessen verlässt sich der Regisseur Ted Huffman, in Zürich mit einer überragenden «Madama Butterfly» von 2017 in Erinnerung, zu sehr auf die historisierenden Kostüme von Annemarie Woods und auf die Symbolkraft eines unablässig vor nachtschwarzem Bühnenrund kreisenden Leuchtschirms. Diese Leinwand indes – sie bleibt weiss: Wir sollen uns Vermeers berühmtes Original vors innere Auge rufen. Oper aber lebt nicht von dem, was imaginiert wird, sondern vor allem von dem, was zu sehen ist. Und seien es blau-gelbe Wolken.

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