Die Bilanz ist bekanntlich enorm: Eine Unmenge von Frauen hat Don Giovanni verführt, betrogen und sitzen gelassen. Sein Diener hat alle notiert und, wie in dieser Stuttgarter Inszenierung, auch fotografiert und akribisch durchnummeriert. Diese stattliche Liste führt Leporello nun via PowerPoint Donna Elvira vor, der zuletzt Verlassenen. Das Publikum lacht, aber Elvira is not amused. Vielleicht weil sie sich ertappt fühlt. Hätte sie doch den Don besser durchschaut! Trotzdem klammert sie sich an den notorischen Womenizer.

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Johannes Kammler (Don Giovanni) und Diana Haller (Donna Elvira)
© Martin Sigmund

Einen durchdringenden psychologischen Blick richtet die Regisseurin Andrea Moses in ihrer Inszenierung an der Staatsoper Stuttgart vorrangig auf das weibliche Personal dieses Werks. Was macht sie zu Verführten dieses Erotomanen? Giovanni begehrt alle Frauen auf dieselbe Weise, Leporellos Liste beweist es. Aber auch die Frauen begehren Giovanni und zwar jede auf ihre Weise. Moses wechselt einfach nur die Perspektive, wobei sie den Text des hervorragenden Menschenkenners Lorenzo da Ponte sehr genau gelesen hat. Und Mozarts Musik gibt ihr Recht.

Das Geschehen ist ins Heute verlegt, ins DG Star Hotel, einem sich fortwährend drehenden zweistöckigen Komplex aus Zimmern, Bar, Treppenhaus und Garage. Durch reibungslose Szenenwechsel bekommt die Aufführung Tempo und die Musik tut das Ihrige. Mag es auch an einigen Stellen etwas geklappert haben, das Orchester entfaltet unter der straffen Leitung der jungen französischen Dirigentin Marie Jacquot enormen dramatischen Sog.

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Andrew Bogard (Masetto), Johannes Kammler (Don Giovanni) und Claudia Muscio (Zerlina)
© Martin Sigmund

Eine recht libertäre Stimmung herrscht in diesem Hotel, dessen Gäste erotischen Abenteuer anscheinend nicht abgeneigt sind. Giovanni ist der passende Chef, Leporello der beflissene Angestellte und drei Escort-Damen erledigen den Service. Abgestiegen ist im Hotel Donna Anna mit ihrem Begleiter Ottavio, die man während der Ouvertüre bei einem Drink mit Giovanni an der Bar sitzen sieht. Auf ihren heimlichen Wink hin folgt er ihr auf's Zimmer, während Ottavio, von Leporello mit genügend Getränken versorgt, langsam dahin dämmert. Sehr genau zeichnet Andrea Moses ihre Figuren. Donna Anna sucht eindeutig den Seitensprung aus der offensichtlich leidenschaftslosen Beziehung zu Ottavio, dem etwas steifen Intellektuellen im schwarzen Zweireiher, einer grundehrlichen Figur, die eigentlich gar nicht in dieses Umfeld passt. Leicht kann Anna ihm später den angeblichen Überfall Giovannis in ihrem Zimmer als Lügenmärchen verkaufen.

Zerlina ist in dieser Inszenierung auch nicht gerade die Unschuld vom Lande. Nur zu gern lässt sie sich von Giovanni umsäuseln. Seine Liebesschwüre schmeicheln ihr, aber glauben tut sie sie nicht. Dennoch hüpft sie ihm auf den Schoß, denn die kleine Abwechslung von ihrem Masetto, den ihr Bedürfnis nach Zärtlichkeit eher verlegen macht, genießt sie schon.

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Claudia Muschio, Andrew Bogard, Mingjie Leid, Mandy Fredrich und Michael Nagl
© Martin Sigmund

Kein Wunder, dass der Don sich hier im Element fühlt. Nur irgendwann hat er zu viel getrunken. Da tritt Annas Vater auf den Plan. Giovanni hatte ihn im Duell gleich zu Beginn der Oper nicht getötet, nur verletzt. Mit Leporellos Hilfe stellt er nun (in der Friedhofsszene des zweiten Akts) das steinerne Denkmal dar, was den betrunkenen Giovanni gehörig erschreckt, weil es ihn zur Reue mahnt. Es ist die reine Komödie, wie der Komtur Leporello den Text zuflüstert, den dieser dann, am ganzen Leibe zitternd, als angebliche Inschrift an Don Giovanni weitersagt. Überhaupt lässt die Regie keine Gelegenheit aus, der Komik der Geschichte freien Lauf zu lassen – geistreich und subtil: ein Dramma giocoso von feinster Art.

Enorme Schlagkraft entfaltet die Oper in ihrem Finale. Marie Jacquot befeuert das Orchester mit Energie zu höchster Dramatik. Masettos Leute, die Giovanni schon länger aufgelauert haben, stürmen mit Baseballschlägern das Hotel, das neuerliche Erscheinen des Komturs erscheint Giovanni wie ein Alptraum und in all dem verwirrenden Chaos schießt zuerst Leporello auf den Don und dann dieser im besinnungslosen Taumel sich selbst in den Kopf. 

Die ironische Volte folgt auf dem Fuß. Das Personalkarussell ordnet sich neu. Elvira beschließt, ins Kloster zu gehen, um ihre Beziehungssucht endgültig zu heilen. Anna erteilt Ottavio eine Abfuhr, wobei der Komtur ihm ermunternd auf die Schulter klopft. Und Zerlina und Masetto tanzen vergnügt um die Leiche. So ganz können die Damen aber vom Don doch nicht lassen: Sie liefern sich ein Gerangel um seinen Hut.

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Michael Nagl (Leporello) und Johannes Kammler (Don Giovanni)
© Martin Sigmund

Die zehn Jahre alte Produktion wirkt in dieser Wiederaufnahme (szenische Leitung: Rebecca Bienek) so frisch und aktuell, als sei's die Premiere. Das ist der intelligenten Regie zu verdanken, aber auch dem durchweg höchst präsenten Solistenensemble: Johannes Kammler als coolem Giovanni, Mandy Fredrich als eleganter Anna, Mingjie Lei als dem amourösem Verlierer Ottavio, Diana Haller als überspannter Elvira, Michael Nagl als verschlagenem Leporello, Claudia Muschio als Zerlina mit Sexappeal, Andrew Bogard als muskelbepacktem Masetto und David Steffens als ganz und gar irdischem Komtur. Alle spielten nicht nur grandios, auch vokal konnten sie auf der ganzen Linie begeistern – eine großartige Ensembleleistung, die vom Publikum mit Jubel belohnt wurde.

Denn nach diesem Abend wusste man gar nicht, worüber man sich mehr freuen sollte: über die anregende Inszenierung, die phänomenalen Sängerdarsteller, das hochinspirierte Orchester oder das packende Dirigat, das dem Ganzen die Krone aufsetzte.

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