Opernhaus: Heldin unserer Herzen ist die betagte Dame

David Marton beschert der Oper Zürich mit «L’Olimpiade» eine der unkonventionellsten Regiearbeiten seit Jahren. Er erzählt in seiner Inszenierung vom Leben alter Menschen in Zürich. Mit Pergolesis Barockoper hat das wenig zu tun. Doch es lässt niemanden kalt.

Christian Wildhagen 5 min
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Vom ursprünglichen Konzept ist bei «L’Olimpiade» nur diese Szene geblieben. So konventionell bleibt es allerdings nicht.

Vom ursprünglichen Konzept ist bei «L’Olimpiade» nur diese Szene geblieben. So konventionell bleibt es allerdings nicht.

Herwig Prammer

Unendlich langsam richtet sich die alte Frau auf, jede Bewegung ist ein Kampf gegen das Alter. Mit der verbliebenen Muskelspannung ihrer dürren Arme stemmt sie sich im Sessel hoch, Zentimeter um Zentimeter. Ob sie am Ende über die hier doppelt und dreifach lastende Schwerkraft triumphieren wird, bleibt ungewiss. Wer einen Funken Anstand im Leib hat, verspürt bei diesem Anblick unweigerlich den Impuls, aufzuspringen und zu helfen. Doch wir können nichts tun, die Szene ist Teil eines Films. Dazu erklingt Musik, live gespielt.

Es ist wunderschöne, sehr junge und sehr heilsame Musik, komponiert vom grössten Wunderkind der neapolitanischen Oper, Giovanni Battista Pergolesi. Er starb mit nur 26 Jahren 1736 an Tuberkulose. Pergolesis Oper «L’Olimpiade» erzählt von den Siegen irgendwelcher Helden, doch ihre Taten tun hier nichts zur Sache – Heldin unserer Herzen ist längst die betagte Dame, die in einem Seniorenheim bei Zürich wohnt. Ihr Kampf mit dem Leben erscheint ungleich grösser als das, was da besungen wird; aber erst die Musik öffnet uns dafür die Augen: Sie nimmt dem alltäglichen Vorgang die Banalität und unserem Gaffen die Peinlichkeit – sie gibt der hilflosen Frau ihre Würde zurück.

Es ist eine der Schlüsselszenen aus David Martons Inszenierung von «L’Olimpiade», die kürzlich auf die Bühne der Oper Zürich kam – mit anderthalb Jahren Verspätung. Gedacht war die Produktion ursprünglich als herkömmliche Opernregie, dann wurde sie zu einer künstlerischen Reaktion auf die Einschränkungen des Kulturlebens durch den ersten Corona-Shutdown. Wie kann man noch Theater spielen, wenn Begegnungen auf der Bühne nicht mehr möglich sind? So lautete damals die Frage. Aber mit der zweiten Welle kam im November 2020 auch das Aus für diese Premiere, unmittelbar nach der Generalprobe. Die Zürcher Oper zeigt «L’Olimpiade» nun doch noch, und sie tut gut daran, denn dies beschert ihr eine der unkonventionellsten Regiearbeiten seit Jahren.

Film und Oper

Der ungarische Regisseur David Marton.

Der ungarische Regisseur David Marton.

Imago

David Marton bringt dafür ideale Voraussetzungen mit: Der gebürtige Ungar ist ausgebildeter Dirigent und hat als Theatermusiker für Christoph Marthaler und Frank Castorf gearbeitet. Seit er selbst als Regisseur tätig ist, verfolgt er eine klare Mission: Er hinterfragt das scheinbar Selbstverständliche in der Oper, nämlich die Rolle der Musik. Was motiviert die gesungenen Emotionen? Wie wirken sie wiederum zurück auf uns, die Hörenden und Schauenden? Wenn Opernregie nicht bloss ein vorgegebenes Handlungsgerüst bebildern soll, sind diese Fragen alles andere als trivial.

David Marton zieht deshalb häufig Reflexions- und Metaebenen in seine Inszenierungen ein. Für diesen Ansatz bedient er sich immer wieder auch der Mittel des Films – also eines Mediums, das sich durch den Totalitätsanspruch seiner visuellen und akustischen Wirkung bis heute nur selten stimmig in das immer schon multimediale Gesamtkunstwerk Oper einbinden lässt. Hier aber überzeugt es, weil der Film nicht bloss verzagt zur Illustration eingesetzt wird; er spielt vielmehr die Hauptrolle.

Bei der Zürcher Pergolesi-Visualisierung war das seinerzeit auch aus der Not geboren, da die Corona-Massnahmen viele in die Isolation gezwungen hatten, zumal die ältesten und verletzlichsten Menschen unserer Gesellschaft. Marton und seine Kamerafrau Sonja Aufderklamm durchbrachen deren teilweise weitreichende Isolation. Sie besuchten und begleiteten sie während des etwas freieren Sommers 2020, immer auf Abstand bedacht, behutsam, aber mit einer erkennbar an Ingmar Bergmans psychologischem Blick geschulten Nähe und Intensität.

Das Ergebnis ist eine berührende Dokumentation des bei aller vermeintlichen Sicherheit eben doch nicht sorgenfreien Lebens alter Menschen in einer Wohlstandsgesellschaft. Bedroht ist diese Sicherheit nicht nur äusserlich durch das Virus, sondern ebenso sehr durch die unberechenbaren Kapriolen des hinfälligen Körpers – und der Seele. Marton, der als Interviewer nicht in Erscheinung tritt, lässt die Menschen ausschliesslich selber sprechen. Er motiviert sie dazu, von ihrem Alltag im Heim oder als Alleinstehende zu berichten. Oft zeigt er sie auch wortlos bei gewohnten, nun mühsam gewordenen Verrichtungen. Eine Frau öffnet zum tausendsten Mal die Storen ihres Zimmers – die eigentliche Geschichte aber ist ihr sehnsuchtsvoller Blick hinaus in den Garten.

Viele beginnen irgendwann, aus ihrem Leben zu erzählen. Sie reden von Träumen, nie verwirklichten Hoffnungen. Da ist die lebenslustige Frau, die sich chic macht und zum Flughafen spaziert, weil sie sich immer noch nach einem Liebhaber sehnt. Einige Sequenzen später wird sie wie beiläufig offenbaren, dass sie als Kind von ihrem Vater missbraucht worden sei – hier wird es schlagartig still im Opernhaus. Und da ist die ungarische Musikerin, die das KZ und einen Todesmarsch der Nazis überlebt hat. Mit einem entschuldigenden Lächeln bekennt sie, dass sie sich noch bis Mitte dreissig mit Stofftieren umgeben hat, um ihre geraubte Kindheit wiederzufinden.

Die Sehnsucht nach der Ferne artikuliert sich im Gesang: doppelte Realität am Flughafen und im Zürcher Opernhaus.

Die Sehnsucht nach der Ferne artikuliert sich im Gesang: doppelte Realität am Flughafen und im Zürcher Opernhaus.

Herwig Prammer

Ungleiche Herausforderung

Dies alles hat mit dem eigentlichen Geschehen bei Pergolesi nicht viel zu tun. Bis auf eine bewusst als Fragment ausgestellte Passage, die wohl die ursprüngliche Probenarbeit überdauert hat, opfert Marton die Handlung komplett. Puristen mögen das bemängeln, umso mehr, als die Dichte der stattdessen projizierten Filmsequenzen die ausgezeichneten musikalischen Leistungen des Abends mehr als einmal in den Hintergrund treten lässt. Dieses bekannte Problem der Übermacht von Bewegtbildern gegenüber jeder Live-Darstellung sollte Marton bei der geplanten Aufzeichnung und filmischen Weiterentwicklung des Projekts berücksichtigen.

Das hauseigene Originalklang-Orchester La Scintilla unter Ottavio Dantone und das hochkarätige Sängerensemble um Vivica Genaux und Anna Bonitatibus nehmen die ungleiche Herausforderung dennoch mit Hingabe an – wohl weil sie wissen, dass die Musik hier zwar die zweite Geige spielt, aber doch das Entscheidende bleibt. Denn erst sie macht aus der Dokumentation, die so auch im Fernsehen laufen könnte, einen Opernabend von ganz eigener Poesie. Sie kommentiert die im Bild gezeigten Emotionen, die Musik überhöht sie, setzt sogar ironische Kontrapunkte. Und manchmal spricht sie aus, was die Befragten im Film nur denken oder fühlen.

So gegen Ende, wenn die Dame im Sessel eine Violine aus dem Kasten nimmt, akribisch die Saiten stimmt – das Orchester tut es ihr zur selben Zeit ebenso ausführlich nach – und die Geige ans Kinn setzen will. Doch da verlassen sie die Kräfte. «Es geht nun nicht mehr», sagt sie traurig und will die Geige wieder einpacken. In dem Moment aber beginnt die Musik zu spielen.

«L’Olimpiade»: eine weitere Aufführung am 19. März, 19 Uhr, Opernhaus Zürich.

Die Musik erzählt von nie verwirklichten Träumen: Szene aus «L’Olimpiade» in Zürich.

Die Musik erzählt von nie verwirklichten Träumen: Szene aus «L’Olimpiade» in Zürich.

Herwig Prammer

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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