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„Die Sache Makropulos“ in Berlin: Der ungemein interessante Alptraum vom ewigen Leben

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Trägt bloß ein Unterkleid, friert aber nicht: Marlis Petersen als Emilia Marty, mit Lara Mohns als junger Marty.
Trägt bloß ein Unterkleid, friert aber nicht: Marlis Petersen als Emilia Marty, mit Lara Mohns als junger Marty. © Monika Rittershaus

Leos Janáceks Oper „Die Sache Makropulos“, von Claus Guth und Simon Rattle ideal in Bild und Ton gesetzt an der Berliner Staatsoper.

Sicher alles genau berechnet, trotzdem ist es merkwürdig, in der Berliner Staatsoper dicht auf dicht zu sitzen, während in Frankfurt Duelle um die wenigen Opernhauskarten abgehalten werden. Auf der Bühne aber vorerst die maximale Einsamkeit. Zum Geräusch eines sehr langsamen Atmens ein gleißend weißer Raum, Nebel steigen wie von niedrigsten Temperaturen angehoben. Eine Frau ist hier, hat keine Haare, trägt bloß ein Unterkleid, friert aber nicht, nähert sich in müdem Gang. Ah, da kommt, die Ouvertüre pocht und drängt inzwischen, auch ein Kind, ein Mädchen im barocken Reifrock. Seine Bewegungen sind die einer lebenden Marionette, die widerwillig aus einem schwarzen Fläschchen trinkt. Ein barocker Reifrock: Es muss einmal einen konkreten Zeitpunkt gegeben haben, aber im eisigen Weiß spielt das irgendwie keine Rolle mehr.

Hinten im weißen Würfel hängt eine Garderobe bereit, dazu eine Perücke. Jetzt wird die Frau eine Blondine von Welt, sie passt gut in die 1920er Jahre, die neben dem weißen Würfel bereits sichtbar waren. Die Bühne, begreift man, ist eine lange Schiene: Der Würfel fährt zur Seite, Gänge und Aktenwände in der Kanzlei von Dr. Kolenaty rücken in die Mitte. Platz wird auch noch sein für den Flur vor der Garderobe der Sängerin Emilia Marty, schließlich für ein Hotel, auch hier ein Gang. Die unwirtlichsten Gegenden, die Innenräume bereithalten, die Durchgänge und Wartebereiche, dominieren. Die langsame Bewegung auf der Schiene passt zum Vergehen der Zeit. Die Zeit vergeht unsichtbar, und auf einmal sind 300 Jahre vorbei.

„Ich glaube, wir wären alle sehr verwirrt, wenn wir nicht sterben würden“, schreibt die amerikanische Schriftstellerin Mary Ruefle in ihrem Band „Mein Privatbesitz“ sehr einleuchtend. Aber auch die Verwirrung weicht einem Überdruss, wenn man Karel Capeks Komödie (!) „Der Fall Makropulos“ folgt. Der Überdruss muss grauenhaft sein. Elina Makropulos, Jahrgang 1585, hat von ihrem alchemistisch tätigen Vater einen lebensverlängernden Trank bekommen, als Testperson in einem dann nicht weiter verfolgten Experiment, Jahrhunderte später sucht sie in Prag nach der Formel, um den Trank erneut zu brauen. Dass sie das Leben so satt hat und trotzdem erst am Ende der Oper sterben will: ein zutiefst menschlicher Vorgang.

Capek und mit ihm der Komponist Leos Janácek verknüpfen das mit einem Erbschaftsstreit, der krimihafte Züge trägt. Elina, die wechselnde Leben lebt und zur Operndiva erster Klasse wird (genug Zeit, ihre Stimme auszubilden, hat sie weiß Gott), ist gut informiert, andererseits kann sie schwerlich Klartext reden. Sie gerät sogar in den Verdacht der Urkundenfälschung, weil sie seit Jahrhunderten dieselbe Unterschrift hat, als Ellian McGregor, als Elsa Müller und so fort.

Ist die komplizierte Handlung lästig, lenkt sie vom Philosophischen ab, der Frage nach dem Wert des Lebens und dem Wert der Endlichkeit? Überhaupt nicht. Der Komponist hat sich ihr gestellt, die Inszenierung von Claus Guth stellt sich ihr. Das brodelnde und durchaus groteske Leben fordert zu Recht seinen Platz, Elina Makropulos’ Drama kann man ohne seinen konkreten Irrsinn – auch eine tragische Liebesgeschichte, einen verrückten Alten, Eifersüchteleien, Ambitionen – nicht ermessen.

Janáceks Musik – 1926 in Brünn erstmals zu hören, ein zäher, langer Weg führte sie endlich ins Repertoire – setzt diese Wirrungen, Stimmungen und Ebenen so fein um, dass man ein gesungenes Schauspiel vor sich hat und doch eine große, ins Sinfonische reichende Musik. Erst recht, wenn Simon Rattle die Staatskapelle Berlin hin zu einer großen, von Richard Strauss nicht enormer gestalteten Schlussapotheose hinführt.

Guth hat sich von Étienne Pluss die aufregende Bühnenschiene bauen lassen. Die dezent historisierenden Kostüme von Ursula Kudrna unterstützen eine kafkaeske Atmosphäre – auch wenn dafür vermutlich schon die Aktenreihen reichen würden. Erst recht hilft dabei die kleine Tanztruppe (Choreografie: Sommer Ulrickson). Ihre Mitglieder beleben als Kanzleiangestellte, als Hotelpersonal, als Marty-Bewunderer im Theater (offenbar singt sie gerade „Madame Butterfly“, eine besonders prominente Opernsuizidentin) die Szenen, ziehen sie sanft ins Surreale.

In dieser bodenständigen Alltags- und Arbeitswelt von 1922 stimmt ganz gewaltig etwas nicht. Junge Männer, die aus einem Aufzug fließen, solche Sachen, spektakulär und kunstvoll dargeboten, die Schwerkraft in Frage stellend, aber die Singenden nicht überflügelnd (unausdenkbar, was für eine Akribie, was für ein Perfektionismus bei der Vorbereitung gewaltet haben müssen).

Überflügeln: das ginge auch nicht. Denn in Berlin ist Marlis Petersen als Emilia Marty zu erleben, die moderne, hinreißende Primadonna, die selbst in der Rolle der traditionellen Operndiva nicht in Klischees verfällt, sondern ein Individuum zeigt, spöttisch, selbstsicher, lässig. Stimmlich muss Marlis Petersen noch längst nicht Rollen fürs Älterwerden suchen, sie zeigt eine strahlende Frau mit strahlendem Sopran, die sich keine Mühe geben muss, damit ihr alle zu Füßen liegen. Aber auch das gestaltet Guth dezent, locker. Das sind normale Menschen, keine Karikaturen. Nur der 337-Jährigen sind sie allzu vertraut und fremd werdend zugleich.

Peter Hoare beispielsweise ist mit markant gleißendem Tenor der Anwaltsgehilfe Vítek, Spencer Britten ein goldiger, aber kraftvoll lyrischer Janek, der glücklose Sohn von Prus senior, Bo Skovhus mit beherrschendem Bariton. Natalia Skrycka als Nachwuchssängerin Krista überzeugt als jugendlich-argloses Pendant zur großen Marty. Der Guth in Berlin einen großen Abgang verschafft, eine regelrechte Tür nach draußen, der sie – kahlköpfig, im Unterkleid, ganz sie selbst oder das, was von ihr übrig ist – entgegenschreitet zur wahnsinnig aufblühenden Musik. Aber nein, wir sehen dann nicht, wie sie tatsächlich hindurchgeht. Die Szene vereist, das Licht geht aus. Als es wieder angeht, steht Marlis Petersen immer noch da, in Laufbewegung. Dann löst sie die Szene auf, hin zum allgemeinen Jubel. Als hätte Emilia Marty alles unter Kontrolle bis zuletzt.

Staatsoper Berlin: 16., 19., 22., 25., 27. Februar. www.staatsoper-berlin.de

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