Szenische Einblicke in das Innenleben des vielleicht genialsten, sicher aber unglücklichsten unter den Sturm-und-Drang-Poeten: Jakob Lenz, ergreifend porträtiert von Ivan Ludlow.

Arnold Pöschl

Klagenfurt – Jeden Februar bringt das Klagenfurter Stadttheater eine Gegenwartsoper heraus. Dieser Tradition hat sich auch Intendant Aron Stiehl verschrieben. Wobei er eigentlich den Schwerpunkt auf das Nachspielen von Werken legen wollte, die nach der Uraufführung zu Unrecht von der Bildfläche verschwunden sind. Die Umsetzung dieses Vorhabens mag noch kommen. Im Vorjahr wurde zunächst mit Salvatore Sciarrinos Il canto s’attrista, perche? eine Uraufführung geboten. Und heuer folgt ein Werk, das auch nicht aus den Archiven hervorgekramt werden musste: Wolfgang Rihms seit der Uraufführung 1979 viel gepriesene und oft gespielte Kammeroper Jakob Lenz.

Dass dieses Theater in seinen Februarproduktionen regelmäßig zur Hochform aufläuft, ist vielleicht ein Zufall. Aber er ist schon wieder eingetreten. Dabei wird diesmal, was musikalische Leitung und Inszenierung betrifft, niemand von weither eingeflogen. Mitsugu Hoshino kam zwar in Kushiro zur Welt, ist Klagenfurt aber seit dem Antritt der hiesigen Kapellmeisterstelle 2002 engstens verbunden. Regisseurin Sophie Springer und Bühnenbildner Thomas Stingl sind hier gebürtig; die für Kostüme zuständige Wienerin Bettina Breitenecker ist in der Wörthersee-Stadt seit einer Dekade Ausstattungsleiterin.

Der Dampfplauderer

Es gelingt ihnen ein fesselnder Einblick in das Innenleben des vielleicht Genialsten, sicher Unglücklichsten unter den Sturm-und-Drang-Poeten. Fesselnd ist dabei auch wörtlich zu verstehen: Der ratlose elsässische Pfarrer Oberlin (Steven Scheschareg) und der Dampfplauderer Kaufmann (Robert Künzli), die Rihm neben sechs inneren Stimmen um seinen Helden schart, sehen sich am Ende genötigt, ihren Schützling dingfest zu machen.

In dieser Inszenierung heißt das: ihn an die Ketten zu hängen, die der Zisterne in Oberlins Pfarrhof entstammen mögen und die sich schindend und würgend durch die Inszenierung ziehen. Ivan Ludlow bewältigt ergreifend die auch physisch enorm herausfordernde, ursprünglich als reine Sprechrolle geplante, dann mit extremen harmonischen Reibungen vom Komponisten doch musikalisch "chiffrierte" Hauptaufgabe. Ein vergittertes Bett, in das er gesperrt wird, gemahnt an die Geschichte der Psychiatrie.

Wollust und Wut

Den sechs Stimmen, die sich in einem labilen Gebäude bei bedrückend variablen Raumhöhen aus allen Perspektiven um ihren Adressaten drängen, hat die Inszenierung Seelenzustände zugeordnet: Wollust und Wut, Angst und Depression, Ekel und Manie. Rihms Lenz, der auf Georg Büchners berühmter Erzählung beruht, trägt ja die Züge aller literarischen Präparate, die der Darmstädter in seine Reagenzgläser gefüllt hat: Da ist der Lebensüberdruss Dantons, da sind die pochenden Geister, die Woyzeck in den Sumpf treiben, da ist die bis ins Gekichere gesteigerte Überdrehtheit von Leonce.

Und manches hat Rihm noch aus dem Schaffen von Lenz in sein Werk gepackt. So in der Predigt (im fünften der dreizehn Bilder) die religiöse Verzückung, aus der man die dramatischen Fragmente zu Katharina von Siena läuten hört. (Michael Cerha, 5.2.2022)