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Samuel Boden (Idamante), Chiara Skerath (Ilione) und Ensemble. Foto: Bernd Uhlig
Samuel Boden (Idamante), Chiara Skerath (Ilione) und Ensemble. Foto: Bernd Uhlig
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Eifersuchtsmord 1731: Campras „Idoménée“ bei den Berliner Barocktagen

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Während die Staatskapelle Berlin mit ihrem Chefdirigenten Daniel Barenboim auf dreiwöchiger Europa-Tournee war, brachten die Barocktage der Staatsoper Unter den Linden vom 5. bis zum 14. November Wiederaufnahmen von Rameaus „Hippolyte et Aricie“ unter Sir Simon Rattle, Glucks „Orfeo ed Euridice“ mit Max Emanuel Cencic, hochkarätige Konzerte und vor allem André Campras „Idomenée“ als Koproduktion mit der Opéra de Lille. Unter Emmanuelle Haïm sang in der Inszenierung von Àlex Ollé mit Tassis Christoyannis, Samuel Boden, Chiara Skerath und Hélène Carpentier ein für die Hauptpartien ideales Quartett.

Von wegen Tod und Totschlag nur hinter der Szene, wie es die barocke Dramenpoetik forderte! Idoménée, König von Kreta, stürzt sich erhitzt durch die Rachegöttin Nemesis auf seinen Sohn Idamante und bringt ihn um. Aus seiner Raserei erwachend muss er weiterleben. „Mein ist der Tod!“ stellt die junge wie schöne Witwe Ilion richtig und geht langsam von dannen. So endet die grandiose Tragédie en musique von André Campra auf das Textbuch von Antoine Danchet. Sie erlebte bei den Barocktagen der Staatsoper unter den Linden Berlin einen Höhepunkt ihrer noch kurzen Wiederentdeckungsgeschichte. Nach einer CD unter William Christie mit Les Arts Florissants 1991, Aufführungen unter Marc Minkowski und im Schlosstheater Schönbrunn geriet die Berliner Koproduktion mit der Opéra de Lille zu einem Triumph. Die Aufführung widerlegte alle Vorurteile gegen die als langweilig und blutleer verschrienen französischen Musiktragödien des Barock.

Neben der rühmenswerten Reihe von György Vashegyi mit Pariser Opern aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, also der späteren Regierungszeit von Louis XVIV., gelangte hier ein zutiefst beeindruckendes Werk auf die Bühne. Mit allem Pomp und aller Sinnlichkeit, welche vor allem die Rezitative in dieser der Fassung von 1731 folgenden und 1712 uraufgeführten Oper ermöglichen. Anstelle der Staatskapelle Berlin saß Haims Le Concert d'Astrée im Graben und verwöhnte mit dem Tanzensemble Dantzaz in den umfangreichen Divertissements desto eindrucksvoller. Minimale Eintrübungen der glanzvollen, betörenden und opulenten letzten Vorstellung am 14. November brachten die immensen Vorzüge nur desto kulinarischer zum äußeren und inneren Leuchten. Es wäre ein Frevel, Mozarts und des sich an Danchets Textbuch orientierenden Giambattista Varesco Oper für München aus dem Jahr 1781 gegen Campra und Danchet aufzuwiegen. Ihre Daseinsberechtigung im heutigen Repertoire hätten beide Werke.

Campras Adaption ist sogar die dramatischere: Bei ihm liebt auch Idoménée nach seinem Schiffbruch an der kretischen Küste die trojanische Edelgefangene Ilion. So wird die Liebesrivalität zwischen Vater und Sohn in der französischen Vertonung zu zusätzlichem dramatischem Dynamit. Campra ist dabei weitaus gerechter in der Charakterisierung Électres, die erst Mozart zur wie ein offenes Messer durch die Welt stürmenden Verliererin machte. Bei Campra bewahrt sie sogar in den leidvollsten Momenten eine perfekte Courtoisie.

Aus Lille kommt die szenisch dekorative, elegante und sehr idiomatische Besetzung. Tassis Christoyannis modelliert in einer der ersten Heldenbariton-Partien den autoritären Machthaber Idoménée zwischen Machtgesten und elegischer Belegtheit, wenn es um Gefühle geht. Überwältigender Star des Abends ist der den liliengeschmückten Opferaltar nur kurz überlebende Idamante von Samuel Boden mit Piano-Schimmer und edelster Akkuratesse im Haute-Contre. Sobald man sich als Publikum damit abfindet, dass Campras Électre keine mit Koloraturen um sich peitschende Megäre ist wie bei Mozart, konnte man an Hélène Carpentier mit jedem der fünf Akte sich steigerndes Vergnügen haben. Nur ihre eindimensionale szenische Gestaltung als jede Etikette souverän füllendes Fashion Victim blieb ein weißer Fleck der Regie.

Bei Chiara Skeraths Ilion wird verständlich, warum sie von genderkorrekten Dirigentinnen so hoch geschätzt wird. Skerath kann weich sein, macht das aber nicht zum dominierend lieblichen Alleinstellungsmerkmal. Sie begegnet den sanften Lämmern auf den Weiden des lyrischen Sopranfachs mit Selbstbewusstsein und einigen geschärften Tönen. So kehren sich hier die von Mozart ungleich zwischen den Frauenfiguren verteilten Kräfteverhältnisse um. Die Götterfiguren sind bei einer derart intensiven Besetzung Doppelgänger der von ihren Leidenschaften umhergetriebenen Menschenwesen. Eva Zajicks Vénus ist weitaus penetranter als ihr Opfer Èlectre. Beim Schlussapplaus verwechselte das Publikum Christoyannis mit den hervorragenden und identisch gestylten Sängern Yoann Dubruque, Victor Sicard und Frédéric Caton.

Emmanuelle Haïm agierte am Pult, sofern es um die Orchestermusiker ging, kongenial in der späteren Fassung mit vier Streicherstimmen, von der ein größerer Teil erhalten ist als von der früheren fünfstimmigen Fassung. Bei den Sängern schenkte Haïm den Frauen größere Aufmerksamkeit. So begleitete sie eine lyrische Arie Hélène Carpentiers mit paradiesischer Reinheit, während sie die hartnäckigen Unsicherheiten im dramatisch aufgeputschten Rezitativ Idoménées mit Arcas am Beginn des dritten Aktes gleichgültig ließen. Ungleichmäßig geriet Martin Harriagues Choreografie mit der Compagnie Dantzaz: Neben fliegend-fließenden Bewegungen in den höfischen Tänzen bei der Verlobung Idamantes wirkten der Auftritt von Vénus' Gefolge unter Blondhaar mit Brustgeschirren nicht bizarr, sondern plump. Im großen Divertissement mit Solo-Musette zeigte sich Harriague völlig unbewegt von den Schönheiten der Musik.

Dafür lieferte Àlex Ollé von La Fura dels Baus eine seiner besten Arbeiten in letzter Zeit, die Bühne von Alfons Flores und die Kostüme von Liuc Castells wirkten Traume aus Königsblau, Weiß und dunklem Silber. Projektionen zeigen in Meeresstrudeln treibende Menschenkörper und Fragmente hellenischer Baukunst. Die Chöre bewegen sich wie die Solisten mit schlichter Grandezza. Das stilisiert alle Figuren, ohne ihnen die realistische Sinnfälligkeit zu entziehen. Die figurativen Anordnungen und Massenszenen ließen an den roten Teppich von Cannes denken. So geht große Oper für das große hauptstädtische Opernhaus Unter den Linden und ein Publikum, unter das sich an diesem Abend offenbar ein Großteil der französischen Community Berlins gemischt hatte. Viel Applaus gab es für ein dramatisches Spektakel mit großen und betörenden Gesten. Das kann man sich sehr gut gefallen lassen, wenn die Musik mit einer derartigen Kultur und Feinzeichnung gelingt wie hier.

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