Zum ersten Mal in Berlin: Campras „Idomenée“ an der Staatsoper

Àllex Ollé von La Fura dels Baus gelingt eine Visualisierung, die etwas vom Geist dieses barocken Theaters in unsere Zeit führt.

Das Ensemble ist der Star. Mittendrin: Samuel Boden (Idamante) und Chiara Skerath (Ilione) 
Das Ensemble ist der Star. Mittendrin: Samuel Boden (Idamante) und Chiara Skerath (Ilione) Bernd Uhlig

Berlin-Der größte Unterschied zwischen dem „Idomeneo“ Wolfgang Amadeus Mozarts und dem rund 60 Jahre früher entstandenen „Idomenée“ von André Campra besteht in der Rolle der Götter. Bei Mozart leistet Idomeneo ein Gelübde in den Meeressturm hinein, im Fall seiner Errettung den ersten Menschen zu opfern, der ihm an Land begegnet, und das ist dann leider der eigene Sohn Idamante. So weit kommt es dann nicht, weil die Stimme Neptuns kurz vor dem Opfer eingreift, wie der Engel des Herrn zwischen Abraham und Isaak. Bei Campra ist es umgekehrt: Die Götter sind die ganze Zeit mit von der Partie, Aeolus, Venus, Neptun, die personifizierte Eifersucht. Am Ende jedoch tritt niemand dazwischen, das Opfer wird vollzogen. Danach passiert in dieser Oper nicht mehr viel: Idomenée will sterben, aber sein Weiterleben ist die größere Strafe, das Stück endet erschreckend lapidar in einer Tonart, die Mozart nie angefasst hätte, in finsterstem b-Moll.

Emmanuelle Haïm hat die musikalische Leitung

Die französische Barockoper, lange als öde verschrien, wird allmählich heimisch in den Opernhäusern – in der Staatsoper Unter den Linden zumindest während der Barocktage. Campra ist zwischen dem älteren Jean Baptiste Lully und dem jüngeren Jean Philippe Rameau – dessen „Hippolyte et Aricie“ auch auf dem Programm der Barocktage steht – noch nicht recht zum Zuge gekommen. Mit Emmanuelle Haïm und ihrem Ensemble Le Concert d’Astrée hat er die besten Fürsprecher, die man sich denken kann: Da entsteht ein feiner, höchst flexibler Klang, der aus dem mit Flöten, Oboen und Fagotten angereicherten Streichorchester zauberhafte Nuancen birgt, aber zur Farbe gehört auch eine genaue Charakterisierung der rhythmischen Typen, die dieser Musik zugrunde liegen, von der rauschenden Virtuosität bis zu fein abgestuften Inegalitäten.

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Bernd Uhlig
Das Stück
André Campra: Idomenée – Tragédie en musique in einem Prolog und fünf Akten (1712/1731), Text von Antoine Danchet

Musikalische Leitung: Emmanuelle Haïm, Inszenierung: Àlex Ollé / La Fura dels Baus.
Idomenée: Tassis Christoyannis, Idamante: Samuel Boden, Ilione: Chiara SkerathChor und Orchester: Le Concert d’Astrée

Campra schreibt enorm differenzierte Rezitative, in denen häufig Orchesterinstrumente mitgehen – das ist schwer zu koordinieren, läuft aber hier perfekt und bewahrt zugleich sprachliche Spontaneität. Immer wieder eingelassen sind Tanznummern, die aber dramaturgisch schlüssig in den szenischen Fluss integriert sind, und Haïm schließt die Nummern so dicht aneinander, dass jeder Akt als ein einziger musikalischer Fluss erscheint – das ist schwer besser vorstellbar. Der von Denis Comtet einstudierte Chor beschert mit Haute-Contres, also sehr hohen Männerstimmen, ebenfalls ein spezielles Klangerlebnis.

Die am Freitag vorgestellte Produktion wurde Ende September schon im koproduzierenden Opernhaus in Lille zur Premiere gebracht. Die Inszenierung stammt von Àllex Ollé, einem Mitglied der katalanischen Maschinentheater-Gruppe La Fura dels Baus, die sonst mit großem Aufwand wenig erreicht – aber hier gelingt eine Visualisierung, die etwas vom Geist dieses barocken Theaters in unsere Zeit führt. Die Prachtentfaltung des Barock hier und seine Leidensinsbrunst dort sind mühelos in unserer Zeit wiederzufinden: Die Autos werden immer schneller, die Werbung immer bunter, zugleich rennen alle zum Psychotherapeuten, krümmen sich vor Rückenschmerzen und sind gelangweilt bei überbordender und jederzeit verfügbarer Unterhaltung.

Genau bis ins Bühnenbild inszeniert

Die von Ollé selbst als „surrealistisch“ erachtete Bühnensprache bildet keinen Widerspruch zur barocken Affektdynamik. Sie macht aus Campras Oper einen dunklen Albtraum, in dem die Figuren sich ständig ihren göttlichen Doppelgängern gegenübersehen. Vénus verwandelt sich sowohl in das Gothic-Girl Ilione – gefangene trojanische Prinzessin, die in Idamante verliebt ist – als auch in die Upper-Class-Tochter Électre – die ebenfalls ein Auge auf Idamante geworfen hat. Idomenée ist von einem gleich aussehenden Neptune begleitet, und die als Électre auftretende Vénus kopiert sich gleich in eine ganze queere Tanzkompanie.

Diesem Hang zur wahnhaften Vervielfältigung folgt auch das Bühnenbild: Zwei riesige Glasscherben ragen herab und dienen zur Projektion barocker Architekturelemente, die sich plötzlich vervielfachen und drehen, oder interessanter Elementarereignisse: Dass La Fura dels Baus sich mit technischen Gimmicks auskennen, ergibt hier endlich einmal Sinn.

Denn diese ganze Idee, dass wie in Homers „Ilias“ die Menschen Marionetten von Göttern seien, lässt sich psychoanalytisch leicht übersetzen in die Spaltung von individuellem und gesellschaftlichem Wunsch. Die Personen sind getrieben von etwas, in dem sie sich selbst nicht erkennen: Wenn Idomenée seinen Sohn töten will – immerhin deutet sich auch noch eine erotische Konkurrenz zwischen Vater und Sohn um Ilione an, es gibt also gute Gründe dafür – hat er damit wenig Rückhalt in einer Gesellschaft, die Ollé als düstere Gespensterfamilie bei Kerzenschein darstellt.

Gesungen wird in harmonischer Abstimmung mit dem Gesamtkonzept; die französische Barockoper kennt anders als die italienische nicht das expressiv-virtuose Hervortreten des Stars. Tassis Christoyannis als Idomenée ist von vornherein eine gebrochene Person, die mit ihrem Bass nur verhalten renommiert, ebenso ist Samuel Bodens Idamante in seiner tenoralen Zurückhaltung ein Paradebeispiel für jene im Barock häufige männliche Zärtlichkeit. Großartig diskret realisiert Hélène Carpentier das Hochfahrende der Électre, Chiara Skerath gelingt das als Ilione nur um den Preis einer gewissen Schärfe. Pointiert ist Victor Sicards Auftritt als Eifersucht im Gewand der Drag Queen, zusammen mit Eva Zaïciks Vénus ergibt das den stimmlich wohl kulinarischsten Moment dieser bemerkenswerten Aufführung.

Weitere Aufführungen 10., 14. und 18.11., Staatsoper Unter den Linden