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„Die Vorüberlaufenden“ von Andrej Koroliov an der Deutschen Oper Berlin. Foto: Eike Walkenhorst
„Die Vorüberlaufenden“ von Andrej Koroliov an der Deutschen Oper Berlin. Foto: Eike Walkenhorst
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Repetitionen zum Abgewöhnen: „Die Vorüberlaufenden“ von Andrej Koroliov an der Deutschen Oper Berlin

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Wer erinnert sich noch an das 1986 uraufgeführte, überaus viel nachgespielte und verfilmte Grips-Musical „Linie 1“ von Birger Heymann und Volker Ludwig: „Fahr mal wieder U-Bahn, tu‘ dir mal was Gut‘s an!“, deren Akteur*innen analog den „Kindern vom Bahnhof Zoo“ in einer untergründigen Schlaufe zwischen Einsteigen, Fahren, Aussteigen – und dem Leben-Fristen gefangen waren.

Jetzt gibt es nahe dem wohl prominentesten Bahnhof der Linie 2 (U2) ein sehr viel ernster gemeintes Nachfolge-Musiktheater – beruft es sich doch auf einen fragmentarischen Prosatext von Franz Kafka, der im letzten Drittel des anderthalbstündigen Abends dann auch einmal rezitiert wird. „Die Vorüberlaufenden“ quasi als die neue „Linie 1“ für die Intellektuellen oder auch die „Linie zwei“ für die inzwischen Etablierten.

Die Stückidee dieses „Musiktheaters“ geht auf Regisseurin Theresa von Halle zurück, die ihre heutige Kafka-Umsetzung mit Andrej Koroliov, dem Mitbegründer des Hamburger Ensembles decoder, erarbeitet hat. Vielleicht tue ich dem Komponisten Koroliov unrecht, geht er doch auf seine Weise gekonnt mit dem immergleichen Material für fünf Instrumentalisten um: er lässt es – wie im Programmheft der Deutschen Oper umschrieben – in Parallel- und Gegenbewegung“ – kreisen: „In einer großen Bogenform expandiert“ die Tonsprache „zugleich von karger Lakonie ins Expressive hinein und im Klang bricht eine Empörung durch, der wiederum auch Resignation und Rückzug einkomponiert sind.“

Doch insgesamt wirkt das auf den Rezipienten recht brav, mit Glissandi – nicht, wie etwa bei Franz Schreker, für die Posaune[n]), sondern fürs Violoncello. Und wenn hier etwas gelungen ist, dann ist es die Reibung zwischen der gemäßigt schrillen E-Gitarre und dem konzertierenden Violoncello. Einer der musikalisch eindrucksvollsten Momente ist dem Komponisten gelungen, wenn die Musik sich auf das Vokale konzentriert und die vier Sänger*innen zu Notenmappen greifen und madrigalartig intonieren.
Aber reicht das für einen Musiktheater-Abend?

Die auf einem Bühnenwagen im Raum diagonal hin- und herfahrenden vier singenden (Valeriia Savinskaia, Arianna Manganello, Philipp Jekal und Samuel Park) und zwei sprechenden Akteur*innen (Johanna Link und Sylvana Seddig) verraten denn mit ihrem Wippen während der Bewegung ihres gezogenen Untergrunds, wie gerne sie in der klassischen „Linie 1“ wären; aber sie stehen doch nur in einem Bus, so sagt es zumindest der Text. Und der sagt es so oft, dass die Zuschauer*innen in der ehemaligen Tischlerei der Deutschen Oper Berlin ihn die Schlagworte auswendig können müssten, selbst wenn die Sprechblasen nicht immer zum Mitlesen über den Köpfen der Zuschauer*innen der gegenüberliegenden Tribüne projiziert werden: „Tag beginnt. Das kommt!“ Und dies erklingt überaus nachdrücklich und mikroport-verstärkt. Allerdings erscheinen die Ausrufe „Hallo Sonne, alte Sau!“, spätestens angesichts des Berliner Einzugs der Tierschutzpartie ins Rote Rathaus, als politisch nicht mehr korrekt.

Die Protagonist*innen dürfen auf Matten eine Schräge herabrutschen. Optisch eine Besonderheit bieten die beiden Schauspielerinnen, indem sie sich darin ablösen, von einem Geländer der den Raum quer durchziehenden Empore zu springen und dann an ihrem Sicherheitsseil zu baumeln, bis sie schließlich herabgelassen werden. Immer wieder wird á la Brecht das Gemachte und Vorgezeigte als nur Behauptetes („Das hier ist ein Kunstprojekt – sehr schön! Ja?“) betont, selbst ein das Geschehen wenig erhellender, wenn auch selbst leuchtender Springbrunnen oder die zu Bändern zusammengeklebten Noten-Seiten der ins Spiel integrierten Saxophonistin (Ruth Velten).

Einer der zu oft repetierten Texte der Librettistin Gerhild Steinbuch nimmt offenbar Bezug auf das Heldentum des an der Deutschen Oper im Entstehen begriffenen „Ring des Nibelungen“: „Ein Held ist jemand, der einfach was macht. – Ich wäre auch gerne solch ein Held!“ Regisseurin von Halle hat ihr Opus mit den Darsteller*innen exakt und mit kollektiven Schreckensgesten einstudiert. Und Sammy Van den Heuvel hat die Mitwirkenden in teils heutige Klamotten, teils in als Umstandskleider genähte, wattierte Steppdecken gehüllt.

Gegen Ende des Abends werden Zuschauer*innen aufgefordert, Fotos zu machen und diese dann an die Dramaturgie (Sebastian Hanusa, Dorothea Hartmann) des Opernhauses zu senden. Schließlich lautet ein Schlüsselsatz des Abends, zugleich der finale Satz des kanonisch repetierten Textblöcke: „Machen Sie ein Foto, damit wir uns an uns erinnern.“ Gleichwohl befürchtet der Rezensent, dass sich an diesen Abend bald niemand mehr erinnern wird – es sei denn, Birger Heymanns und Volker Ludwigs Ohrwurm „Fahr mal wieder U-Bahn“ erklingt nostalgisch im Rundfunk oder flimmert als Film über die Mattscheibe.

Auch nach der zweiten Aufführung applaudiert das akademisch geschulte Publikum brav für das mit Violine, Violoncello, E-Gitarre, Posaune und Klavier akkurat musizierende, von Vicente Larrañaga musikalisch geleitete Instrumentalensemble und für die gesanglichen und darstellerischen Leistungen.
Zwei Besucherinnen werteten den Abend im Vorüberlaufen zum Ausgang gar als „mega-cool“, während andere mehr dem Sir Morosus zustimmten, der am Ende von Strauss‘ „Die schweigsame Frau“ konstatiert: „Wie schön ist doch die Musik, aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist.“

Weitere Aufführungen: 30. September, 2., 3., 5. und 7. Oktober 2021.

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