Opernhaus Zürich: Salomes Mondfahrt gipfelt in einer Vergewaltigung

Andreas Homoki verpflanzt zum Spielzeitauftakt den Opernschocker von Richard Strauss auf den Erdtrabanten. Aufschlussreicher als das surreale Setting ist das Geschlechterverhältnis zwischen den Protagonisten.

Christian Wildhagen
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«Sieh die Mondscheibe, wie sie seltsam aussieht. Wie eine Frau, die aufsteigt aus dem Grab»: Szene aus der Zürcher Neuproduktion der «Salome» mit Elena Stikhina in der Titelrolle.

«Sieh die Mondscheibe, wie sie seltsam aussieht. Wie eine Frau, die aufsteigt aus dem Grab»: Szene aus der Zürcher Neuproduktion der «Salome» mit Elena Stikhina in der Titelrolle.

Paul Leclaire

Das Raumschiff ist gelandet. Aber Mister Spock und Captain Kirk lassen noch ein wenig auf sich warten. Immerhin ist ihre Mannschaft schon ausgestiegen und inspiziert, in schicke gelbe «Enterprise»-Anzüge gehüllt, den unbekannten Planeten unter ihren Füssen. Allzu weit sind die Weltraum-Abenteurer freilich nicht in die berühmten «unendlichen Weiten» vorgedrungen, denn das gräuliche Nichts rund um sie her ähnelt verdächtig unserem guten alten Mond.

Und tatsächlich: Es ist die Mondscheibe, die Projektionsfläche schlechthin für Phantasien und Wünsche seit der Romantik. Nur ist dieser einst so verheissungsvolle Erwartungshorizont leider leer und ungemütlich geworden, seit wir mit Sicherheit wissen, dass der Mann im Mond hier nie gelebt hat, dass Peterchen auf seiner Fahrt hier niemals vorbeikam und dass auch die lunare Lithosphäre – entgegen einer bekannten Nonsens-Theorie – höchstwahrscheinlich nicht aus grünem Käse besteht. Im Opernhaus Zürich hingegen gibt es nun endlich wieder Leben hier oben, sogar ein veritables Operntheater mit Gesang, und das Spektakel gebärdet sich obendrein ziemlich verrückt. «Lunaticus» nannten das kopfschüttelnd die alten Römer. Wie recht sie hatten!

«Der Mond ist wie der Mond»

Für seine Neuproduktion der «Salome» von Richard Strauss, mit der die Zürcher Spielzeit 2021/22 beginnt, hat Andreas Homoki, der Intendant des Opernhauses, offenkundig sehr genau ins Textbuch geschaut. Dort stiess er auf ein Dutzend Stellen, an denen in der Vorlage von Oscar Wilde unter wechselnden Vorzeichen vom Erdtrabanten die Rede ist. «Wie gut ist’s, in den Mond zu sehn!», schwärmt etwa die titelgebende Prinzessin von Judäa, gleich zu Beginn, als sie wieselflink auf die Bühne springt – hier übrigens über eine futuristisch gezackte und klappbare Gangway.

Der Mond sehe aus «wie ein wahnwitziges Weib, das überall nach Buhlen sucht», spintisiert dagegen ihr Stiefvater Herodes. Er hat bekanntlich ein lüsternes Auge auf die babylonische Lolita geworfen, kann bei ihr aber nicht mehr landen, seit sie nur noch Augen für diesen herrischen Propheten hat, der unablässig krude Weissagungen aus seinem Gefängnisloch unter der Erde hervorstösst. Ihn wiederum stimmt die Lüsternheit des Weibes durch und durch apokalyptisch: «Der Mond wird werden wie Blut, und die Sterne des Himmels werden zur Erde fallen», dräut er bibelkundig. Nur die Mutter des Hauses behält einen klaren Kopf: «Nein, der Mond ist wie der Mond, das ist alles», entscheidet Herodias nüchtern.

Homokis Ausstatter Hartmut Meyer übersetzt diese gegensätzlichen Projektionen in ein abstraktes Bühnenbild, in dem vor aschfarbenem Horizont zwei stilisierte gelbe Mondsicheln kreisen, die eine am Boden, die andere im Bühnenhimmel. Das erinnert von Ferne an die Formensprache in Oskar Schlemmers «Triadischem Ballett», mehr noch aber an die sehr irdischen Studiokulissen der besagten frühen «Star Trek»-Serie, die ihre Herkunft aus den 1960er Jahren ebenso wenig verbargen wie ihren Kulissenhaftigkeit. Auch im Opernhaus bleibt das abwechselnd surreal, poetisch und bedrohlich wirkende Bühnenkonstrukt strenggenommen Staffage. Denn wie meist in Homokis Inszenierungen spielt sich das Wesentliche in der Interaktion zwischen den Figuren ab. Und da passiert eine Menge, vor allem viel Ungewohntes.

Der Mann als Objekt

Die Russin Elena Stikhina nimmt der Salome vom ersten Auftritt an das Pubertär-Backfischhafte, das in der Rolle angelegt ist, das aber im Verlauf der Rezeptionsgeschichte seit 1905 nur wenige Interpretinnen der hochdramatischen Titelrolle glaubhaft zu verkörpern wussten. Stikhinas Prinzessin ist keine laszive Kindfrau, vielmehr eine selbstbewusste Welt(raum)-Entdeckerin, die sich nach kurzer Irritation ebenso dezidiert auf einen Geschlechterkampf mit dem Propheten Jochanaan einlässt. Der Täufer fasziniert sie und stösst sie gleichermassen ab, zumal sie seine visionären Lehren von «dem Einen», dem Heiland, der da kommen und die Welt erlösen wird, von vornherein als schönes Wortgeklingel abtut. Stattdessen reduziert sie ihn mit kühler Berechnung auf seine Rolle als Mann und mögliches Sexualobjekt.

Der Prophet als Sexualobjekt: Jochanaan (Kostas Smoriginas) erwehrt sich der Zudringlichkeiten Salomes (Elena Stikhina). Noch.

Der Prophet als Sexualobjekt: Jochanaan (Kostas Smoriginas) erwehrt sich der Zudringlichkeiten Salomes (Elena Stikhina). Noch.

Paul Leclaire

Bei ihrem Spiel mit dem Feuer rechnet Salome freilich nicht damit, dass umgekehrt auch der Heilige («Gewiss ist er keusch wie der Mond») Gefühle sehr gegensätzlicher Natur entwickelt. Homoki und der junge, stimmgewaltige Bassbariton Kostas Smoriginas zeigen Jochanaan nämlich keineswegs als schwach. Askese und Sinnlichkeit, die Suche nach Gott und die Sehnsucht nach einer kurzen, liebevollen Berührung kämpfen in ihm einen eindrucksvollen Kampf. Und es gibt noch eine viel dunklere Seite an diesem Gottesmann: Sie tritt erstmals zutage, als sich Salomes Verehrer Narraboth – der schwärmerisch-sensible Mauro Peter – vor Verzweiflung das Leben nehmen will. Jochanaan entwindet dem Sterbenden das Messer und schneidet ihm kurzerhand die Kehle durch. Ist das praktizierte Gnade? Erlösung gar? Oder kaltblütiger Mord aus Eifersucht?

Vollends drastisch wird es, als die immer exzessiver werbende Salome («Ich will deinen Mund küssen, Jochanaan!») den Propheten derart aus der Fassung gebracht hat, dass er sich nur noch mit Gewalt zu behelfen vermag: Zur entfesselt tobenden Verwandlungsmusik nach dem Aufschrei «Du bist verflucht!» stürzt er sich auf die Prinzessin und vergewaltigt sie. Alles Folgende steht schlagartig in einem anderen Licht: Die im Markus-Evangelium überlieferte Enthauptung des Täufers ist nicht mehr das Resultat eines perversen Spiels der Dekadenz, wie bei Wilde, sondern der völlig rational herbeigeführte Racheakt einer geschändeten Frau.

Die Regie hinterfragt indes auch diese radikale Lösung mit einem Bild, das man wahlweise kitschig, verstörend oder berührend finden kann: Zur Schlussszene, in der Stikhina mit eindrucksvoller Stimmkontrolle Zwiesprache mit dem Täufer-Haupt hält, erscheint Jochanaan noch einmal leibhaftig, wie in einer Vision des Auferstandenen. Still setzt er sich am Rand der Mondsichel nieder. «Das Geheimnis der Liebe ist grösser als das Geheimnis des Todes», singt Salome und lehnt ihren Kopf für einen ungemein innigen Moment an seine Schulter. Doch es soll nicht sein. Mit dem plötzlich faden Triumph des letzten Aufschwungs («Ich habe ihn geküsst, deinen Mund») verschwindet sie wieder über die erwähnte Gangway – und lässt einen verheerten Planeten zurück.

«Tanze nicht, meine Tochter!»: Michaela Schuster (Herodias, links) und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke (Herodes) als dysfunktionales Ehepaar.

«Tanze nicht, meine Tochter!»: Michaela Schuster (Herodias, links) und Wolfgang Ablinger-Sperrhacke (Herodes) als dysfunktionales Ehepaar.

Paul Leclaire

Zurück lässt sie dort auch ihren verhassten Stiefvater Herodes, dessen hilfloser Befehl «Man töte dieses Weib!» nun gleichsam ersatzweise Herodias trifft. Wolfgang Ablinger-Sperrhacke und Michaela Schuster – beides Bühnentiere mit überwältigender Präsenz und beispielhafter Textverständlichkeit – entwerfen in wild entbrennendem Furor das Porträt einer dysfunktionalen Ehe. Das steht in seinem Strindberg-Realismus ein bisschen quer zu dem surrealen Mond-Spektakel, legt aber en passant offen, wie nah der selbsternannte «Bürgerschreck» Strauss damals bereits der Zeitoper der zwanziger Jahre kam.

Opernrausch

Die Premiere der «Salome» ist die erste Opernproduktion seit anderthalb Jahren, bei der die Philharmonia Zürich wieder in voller Besetzung im Graben spielt. Möglich wird dies durch die Anwendung des sogenannten 3G-Prinzips («geimpft, getestet oder genesen»), dem sich neben der Belegschaft ab sofort auch das Publikum beim Betreten des Opernhauses unterwerfen muss. Das Verfahren wurde im Sommer bereits im grossen Massstab bei den Salzburger Festspielen erprobt und dürfte sich in der Praxis – zumal ab Mittwoch unter anderem auch die Tonhalle-Gesellschaft mitzieht – im Zürcher Kulturleben etablieren. Am Sonntag kam es auch schon bei den gut fünftausend Besucherinnen und Besuchern zur Anwendung, die im Rahmen von «Oper für alle» die «Salome»-Premiere in einem abgetrennten Bereich auf dem Sechseläutenplatz via Grossbild-Leinwand verfolgten.

Der durch das 3G-Prinzip mögliche Verzicht auf zusätzliche Sicherheitsabstände beschert den Besuchern im Haus das überwältigende Klangerlebnis eines hundertköpfigen Strauss-Orchesters, das unter der Leitung von Simone Young in allen erdenklichen Farben gleisst und schillert.

Zwei wenig bekannte Fassungen der «Salome» veröffentlicht

(dpa)/wdh. · Die Bayerische Akademie der Wissenschaften in München hat zwei weitgehend unbekannte Fassungen des 1905 uraufgeführten Einakters von Richard Strauss veröffentlicht. Es handele sich zum einen um die originale «Französische Fassung» von 1905 und um eine authentische «Dresdner Retouchen-Fassung» von 1929/1930, teilte die Akademie mit. Für die französischsprachige Fassung hat Strauss auf das von Oscar Wilde auf Französisch verfasste Theaterstück «Salomé» zurückgegriffen. Dabei wurden die Gesangsstimmen umgeschrieben, um sie an die Sprache des Originaltextes anzupassen.

Bei der Dresdner Retouchen-Fassung habe Strauss anstelle der üblichen hochdramatischen Stimme einen lyrischen Sopran in der Titelrolle eingerichtet. Die Version feierte nach Angaben der Akademie 1930 Premiere, geriet aber in den 1940er Jahren in Vergessenheit. Nun steht sie als interessante Aufführungsoption wieder zur Verfügung. Die von der Richard-Strauss-Forschungsstelle publizierten Notenbände sind Teil des Projektes «Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss», in dessen Rahmen auch eine Neuausgabe der Oper «Elektra» erschienen ist. Die Werke von Richard Strauss sind seit 2020 gemeinfrei.

Die frühere Generalmusikdirektorin der Hamburgischen Staatsoper weiss als erfahrene Strauss-Dirigentin natürlich um dessen Ideal einer «Elfenmusik», das Franz Welser-Möst in Salzburg seit 2018 exemplarisch bei «Salome» und «Elektra» umgesetzt hat. Anfangs hält auch Young die Zügel stramm, aber mit der Zeit reisst der Elan der Musik alle Beteiligten mit.

In der Folge wird es stellenweise sehr laut, und einige Sänger müssen mit weit mehr Kraftanstrengung singen, als es eigentlich im Opernhaus nötig wäre. Das ist kein Beinbruch, es entfaltet sogar jene rauschhafte Wirkung, mit der das grenzensprengende Stück seit bald 120 Jahren das Publikum verführt. Fragt sich bloss, was Kirk und Spock zu einem Opernrausch auf dem Mond gesagt hätten.

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