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GREEK, Premiere 27. August 2021 Open-Air auf dem Parkdeck der Deutschen Oper Berlin, Foto: © Eike Walkenhorst
GREEK, Premiere 27. August 2021 Open-Air auf dem Parkdeck der Deutschen Oper Berlin, Foto: © Eike Walkenhorst
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Spannend und witzig: Mark-Anthony Turnages „Greek“ auf dem Parkdeck der Deutschen Oper Berlin

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Ein Augusttag wie im April, geschüttelt zwischen Sonnenschein und heftigen Regenschauern, schien die erste Premiere der neuen Spielzeit an der Deutschen Oper Berlin infrage zu stellen, denn Marc-Anthony Turnages Oper „Greek“ findet wieder einmal auf dem inzwischen bewährten Parkdeck, auf der Rückseite des Opernhauses, also open-air statt. Doch dann zeigte sich der Himmel der postmodernen Adaption des Ödipus-Stoffes gewogen: „Fate makes us play the roles we cast“, wie es in dieser Oper heißt: Ein spannender Opernabend und ein gelungener Saisonstart.

Beim Einlass herrschte noch etwas Chaos angesichts der Umsetzung der 3G-Maßnahmen, der gebotenen Anmeldungen per Luca App oder per Handschrift, aber dann erfolgte die Durchsage, „Sie dürfen auf dem Platz ihre Masken abnehmen“, – endlich wieder einmal!

Marc-Anthony Turnages Oper nach Steven Berkoffs gleichnamiger Verstragödie aus dem Jahre 1980, basierend auf der Tragödie „König Ödipus“ von Sophokles hat seit ihrer Uraufführung am 17. Juni 1988 in München, die der Rezensent miterlebt hatte, nichts an Schlagkraft verloren. Im Gegenteil: sie ist von neuer, brennender Aktualität – dies wohl auch der Grund, warum Intendant Dieter Schwarz das zweiaktige Musiktheater als neunzigminütiges, pausenloses Spektakel in den Spielplan genommen hat.

Der Bühnenaufbau ist jener, wie man in etwa aus den open-air-Produktionen „Oresteia“ und „Rheingold“ kennt, mit einem aus dem japanischen No-Theater übernommenen Blumensteg als einem die Bühne verlängernden, in die Mitte der ersten Auditoriumsreihen führenden Podest, dahinter einer gestuften Bühne bis hinauf zur Mittel-Ebene, wo das Orchester der Deutschen Oper Berlin regengeschützt positioniert ist.

Michaela Flücks Bühnenbild stellt den Abend in einen bunten Plastikrahmen mit Mythos-Bezügen, rechts und links aufgerichtete Hände auf Säulenfüßen, klassischer Bühnennebel gemischt mit Pop-Elementen, Fackeln und pulsierende, rote Linestra-Röhren.

Ein Clou von Turnages Oper, die Hans-Werner Henze für seine erste Münchner Biennale für zeitgenössisches Musiktheater ausgewählt hatte, ist die Beschränkung auf vier singende Protagonist*innen. Rund um die durchgängige Partie des Eddy – als den modernen Ödipus –, schlüpfen seine Mitspieler*innen in die die Rollen aller Vater- und Mutter-Figuren, inklusive Polizeipräsident und Manager, und schließlich auch der Sphinx. Letztere bleibt in dem mit Erderwärmung, Seuche und Verordnungen gepeinigten Land als Anachronismus erhalten, während die Weissagung, Eddy werde seinen Vater töten und seine Mutter ehelichen, hier an einen Kirmes-Wahrsager delegiert wurde.

Berkoffs Sprache, auch in dem vom Komponisten und Jonathan Moore eingerichteten Libretto, wählt eine Mischung aus drastischem, alten Shakespeare-Englisch mit Slang. Gesungen wird in Originalsprache, und das Cockney Englisch ist (allzumal gesungen – nur wenige Dialoge sind unvertont) schwer zu verstehen. Da im Tageslicht des frühen Abends die deutschen Übertitel zur linken und rechten Seite kaum zu lesen sind, hilft das dem Programmheft beigefügte Libretto in einer sehr guten Übersetzung (von N.N.)

Deutlicher als bei Sophokles oder in anderen späteren Bearbeitungen ist in „Greek“ die Sphinx die verkörperte Rache der Frauen am Mann („Frauen sind ganz Sphinx!“) Und auch deren Rätsel – was geht am Morgen auf vier, am Mittag auf zwei und am Abend auf drei Beinen – wird hier nicht als „der Mensch“ entschlüsselt – als Baby, Erwachsener und im Alter mit Krücke –, sondern als der Mann.

Yi-Chen Lin, seit vergangener Spielzeit als Kapellmeisterin und musikalische Assistentin des GMDs an der Deutschen Oper Berlin engagiert, gibt, mit ihrem ganzen Körper swingend, die richtigen Impulse für die Mitglieder des Orchesters der Deutschen Oper Berlin: tiefe Streicher, Flöte, Oboe, Englischhorn, Klarinette, Saxophon, Horn, Trompete, Posaune, Harfe, Flügel und eine Batterie an Schlagwerk (für zwei Spieler). Neben ihren Instrumenten haben sämtliche Orchestermusiker*innen Schlagwerk-Aufgaben, zum col legno tritt das Schlagen auf Mülltonnen oder auf Metallstangen. Die in der Partitur voll ausgereizte klangliche Bandbreite integriert diverse Stilrichtungen, ohne diese wörtlich zu zitieren, Fußballstadions-Gesänge, Rap, Rock, Bigband und Jazz. Zu den witzigen Höhepunkten zählt das musicalartige Liebesduett am Ende des ersten Aktes mit musikalischem Slapstick.

Die Partitur des 1960 geborenen Komponisten verfügt über echte Schönheiten. Wenn die Gefühle der Handlung echt und unverfälscht sind, bleiben Celesta und Harfe als „göttliche Instrumente“ übrig anstelle eines sonst permanent präsenten, aus dem Fußball-Stadion übernommenen Agitatos, welches die Dirigentin als „Schicksalsmotiv“ klassifiziert. Die Köpfe der von Theresa Vergho poppig kostümierten Darsteller*innen krönen schwarze Heiligenscheine. In dieser musikalischen Tragödie darf gelacht werden.

Rundum gelungen ist die spilastisch witzige, dicht gefügte und von den Protagonist*innen einiges Mehr abverlangende Regie von Pinar Karabulut. Zwischen Pop-Manierismen und Popcorn-Gefecht zitiert die Regisseurin Bilder der MTV-Generation, alludiert Madonna, Britney Spears und Queer-Culture.

Grundsätzlich erfolgen die Verwandlungen der Vater- und Mutter-Figuren, also die von Eddys Stief- wie die von seinen leiblichen Eltern, sichtbar auf der Bühne. Um in die nächste Rolle zu schlüpfen, pumpt die Mutter Eddys leiblichen toten Daddy wieder lebendig, stülpt ihm Bart und Perücke des Stiefvaters über.

Ein Bewegungschor aus drei Damen und einem Herrn bildet optisch den Chorus, etwa als weibliche Kentaure mit aufgeblasenen Corpus und nachhopsenden Hinterbeinen. Wenn Eddy das Land verlassen will und doch in London bleibt, versucht er vergeblich, einen der das Gelände abgrenzenden Zäune hoch zu klettern.

Rechts vom Bühnenpodest fährt der reich gewordene Eddy mit seiner zur Frau genommenen Mutter in einem roten Auto vor, und ein übergroßer Pappbecher verrät, dass sein erfolgreiches Café zur Starbucks-Gruppe gehört. Die Sprache ist zumeist unverblümt drastisch („Fotze! Scheiße! Dreck! Reue! Blutverschmiert! Ausbluten! Platz! Schwell! Schlitz! Knackgriff! Einknick Rippensplitter! Hoden ausgerissen!“)

Dem dement gewordenen Nazi-Ziehvater Eddys wird von einer ihm die Stufen vorzählenden Statistin von der Bühne geholfen, und anschließend irrt er ratlos durch die Publikumsreihen. Blumen bedecken Eddys Leiche bei dessen klassisch-mythischem Tod, bevor die Oper eine finale neue Wendung nimmt; Eddy steht wieder auf: „Scheiß auf das! Ja, ich will in meine Mutter zurückkriechen, was ist falsch daran?“

Im Gegensatz zum mythischen Vorbild des Ödipus blendet sich Eddy nicht, sondern steht zu sich selbst und zu seinem Handeln: „Liebe, ganz egal wie sie aussieht. Liebe, die ich fühle für deine Brust, deine zweimal gesaugten Nippel, deinen zweifach vertrauten Bauch, deine zweimal liebkosten Hände, deinen zweimal gerochenen Atem, deine zweifach vertrauten Schenkel, liebender Quell deines Seins. Ausgang des Paradieses! Tor zum Himmel!“

Getragen wird die Berliner Produktion von ganz wunderbaren, rollendeckenden Sängerdarsteller*innen, allen voran dem Bariton Dean Murphy als Eddy, zusammen mit Irene Roberts als Wife, Doreen, Waitress 1 und Sphinx 2, Seth Carico als Dad, Cafe Manager und Police Chief, sowie Heidi Stober als Mum, Waitress 2 und Sphinx 1. Viel Begeisterung, ungeteilt für die Ausführenden und das Leitungsteam; berechtigter Applaus für einen sehens- und hörenswerten, rundum gelungenen Saison-Start!

  • Weitere Aufführungen: 28. August, 3., 4., 5., 7. und 8. September 2021

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