Bregenzer Festspiele: Rom brennt, der Kaiser singt

Er war mehr als Verdis Meister-Librettist: In seiner Oper «Nerone» trägt Arrigo Boito den Kampf zwischen Gut und Böse vor einem spektakulären Geschichtspanorama aus.

Michael Stallknecht, Bregenz
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«Nerone», das zweite Bühnenwerk von Arrigo Boito nach dem «Mefistofele», widmet sich der Christenverfolgung unter dem römischen Kaiser Nero.

«Nerone», das zweite Bühnenwerk von Arrigo Boito nach dem «Mefistofele», widmet sich der Christenverfolgung unter dem römischen Kaiser Nero.

Karl Forster / Bregenzer Festspiele

Gute Librettisten sind eine gesuchte Spezies im Musiktheater. Insofern hätte Arrigo Boito mit der eigenen Lebensleistung hoch zufrieden sein können, stammen aus seiner Hand doch einige der bedeutendsten Textbücher der italienischen Oper überhaupt, darunter diejenigen für Giuseppe Verdis «Otello» und «Falstaff» sowie die Neufassung des «Simon Boccanegra». Doch der vielseitig Begabte und Tätige strebte nach noch Höherem: Er wollte auch selbst als Komponist reüssieren.

Mit dem «Mefistofele» nach Goethes «Faust» gelang ihm das – nach längeren Kämpfen und einschneidenden Revisionen – so überzeugend, dass das Werk noch immer einen soliden Platz am Rande des Kanons einnimmt. Erst bei der zweiten Oper wurde es wirklich zäh: Sage und schreibe 56 Jahre lang arbeitete Boito an «Nerone», verzichtete auf eine bereits geplante Uraufführung, dann auch auf die Vertonung des fünften Akts. Als er 1918 starb, war die Instrumentation immer noch nicht fertig, sie wurde vom Dirigenten Arturo Toscanini vollendet, der das Werk 1924 an der Mailänder Scala herausbrachte.

Seitdem ist es nur selten nachgespielt worden. In diesem Sommer wagen sich nun die Bregenzer Festspiele in ihrer seit langem gepflegten Raritätenreihe an die Oper; auf der Seebühne ist nach einjähriger Corona-Unterbrechung derweil die Wiederaufnahme der publikumswirksamen Inszenierung von Verdis «Rigoletto» zu sehen.

Wahn und Erlösung

Auch Boitos «Nerone» drängt über den Rahmen des Festspielhauses hinaus – das liegt schon in der Stoffwahl begründet. In einem monumentalen Geschichtspanorama widmet sich das Stück der Christenverfolgung unter dem römischen Kaiser Nero, was die Oper in die Nähe von Romanen wie Henryk Sienkiewiczs «Quo Vadis?» aus dem Jahr 1895 und von ähnlich grossformatigen Ölgemälden der Zeit rückt.

Peter Ustinov als Kaiser Nero in Mervyn LeRoys Verfilmung von «Quo vadis?» aus dem Jahr 1951.

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Mit ihnen teilt es die historistische Akribie und die Tendenz zur klaren Wertung: Auf der einen Seite stehen die reinen, einander in Nächstenliebe verbundenen Christen; ihnen ordnet Boito die diatonische Klangsphäre zu. Auf der anderen Seite steht Rom, das Sündenbabel, das sich ganz der Wollust und der Grausamkeit ergeben hat und sich musikalisch in schlingender Chromatik ergeht.

Wie schon in «Mefistofele» zeigt Boito dabei, durchaus in romantischer Tradition, eine Lust am Bösen als dem antibürgerlichen Element: Nero ist ganz klassisch der Muttermörder, Christenverfolger, vom Grössenwahnsinn der Selbstvergottung Geschlagene; aber auch ein dekadenter Ästhet, der als selbsternannter Künstler um der Inspiration willen den Brand Roms in Kauf nimmt.

Erotisch reizt ihn nur noch der Missbrauch der unerreichbaren, der göttlichen Frauen, die bei Boito als typische Phantasmagorien weiblicher Zerrissenheit aus dem späten 19. Jahrhundert erscheinen: Rubria, die zwischen ihrer Rolle als Vestalin im offiziellen Kult und dem Christentum schwankt, stärker noch Asteria, die Nero an Wahnsinn gewachsen ist: Obwohl sie sich nach Erlösung im Christentum sehnt, treibt sie der Wunsch an, vom Kaiser entweder geliebt oder getötet zu werden – was wiederum an die Kundry in Wagners «Parsifal» erinnert.

In Boitos «Nerone» stehen die verfolgten Christen für das Gute, musikalisch hat Boito die Gegenwelt der römischen Dekadenz allerdings noch mehr inspiriert.

In Boitos «Nerone» stehen die verfolgten Christen für das Gute, musikalisch hat Boito die Gegenwelt der römischen Dekadenz allerdings noch mehr inspiriert.

Karl Forster / Bregenzer Festspiele

Dass der Regisseur Olivier Tambosi in Bregenz nicht die vorgefurchten Pfade des Sandalenfilms beschreiten mag, ist nachvollziehbar, verführt ihn aber leider nur dazu, auf ähnlich ausgetretene auszuweichen: Er siedelt die Produktion in einer bösen Clownswelt der 1920er Jahre an, einer inzwischen allzu gängigen Metapher vieler Regisseure für «Dekadenz». Fataler noch wirkt sich aus, dass er handwerklich kaum in der Lage scheint, bildhaft griffige Szenen herzustellen, so dass wer vorab das Libretto nicht gelesen hätte, hier schlicht überhaupt nichts verstünde.

Die Scala im Blick

Dabei ist Boitos Werk durchaus reich an solchen Bildern, ja, es drängt das Werk unaufhörlich zum Tableau, zur überwältigenden Szenerie: an die Gräber entlang der Via Appia bei Nacht, zur tobend geifernden Menge im Circus Maximus und in die Keller des brennenden, obendrein von einem Erdbeben heimgesuchten Rom. Dem entspricht musikalisch eine Stimmungsmalerei, der Boito die stärksten Momente in den von ihm bevorzugten dunklen Farben abgewinnt. Er – oder in seinem Sinne Toscanini – instrumentiert sie mit allem Raffinement eines romantischen Nachzüglers, der gelegentlich das 20. Jahrhundert vorausahnt.

Vieles erscheint dabei originell wie der vom Prager Philharmonischen Chor a cappella gesungene Beginn, manches bloss gesucht. Man merkt dem Klanggemälde an, wie sehr hier über Jahrzehnte hinweg immer wieder Farben abgekratzt und neue hinzugefügt worden sind. Die Wiener Symphoniker stellen sie alle mit bemerkenswerter Klarheit und Präzision dar, es brauchte aber einen Dirigenten, der stärker in ihnen zu schwelgen, sich gelegentlich auch zu verlieren wüsste als Dirk Kaftan.

Kaftan hält mit kapellmeisterlicher Redlichkeit zusammen, was auseinanderstrebt, und im Fluss, was ständig über seine Ufer treten will. Mit solcherart flüssigen Tempi bringt er freilich die Sänger in noch grössere Bedrängnis, als sie es ohnehin sind. Schliesslich kalkulierte Boito das Meisterwerk seines Lebens merklich für eine allererste Besetzung an der Scala, die auch die Durchschlagskraft für spätromantisches Pathos aufzubringen vermöchte. Der erfahrene Bariton Lucio Gallo – in der Figur des Simon Mago eine Steigerung des Jago aus dem «Otello» – kommt damit bestens klar, auch Alessandra Volpe schlägt sich mit sattem Mezzosopran achtbar als Rubria.

Doch im Übrigen wird häufig am Anschlag gesungen, ohne dass das Ergebnis wenigstens dankbar wäre. Denn Boito ist über die Jahrzehnte nicht nur der melodische Schwung abhandengekommen, er verwickelt seine Figuren auch kaum in bühnenwirksame Konflikte mit echt menschlichem Ausdruckspotenzial. Als Symbolfiguren ihrer jeweiligen Welten wandeln die Gestalten nebeneinander her und tragen ihre innere Zerrissenheit zuletzt mit sich selber aus.

Im Gegensatz zu seiner Titelfigur war der Komponist am Ende wohl glücklicherweise nicht grössenwahnsinnig genug, mit einem unvollendeten Kunstwerk vor die Menge zu treten. Was vorliegt, macht den monumentalen Torso aber immerhin so reizvoll, dass man ihn gern in einer adäquaten Umsetzung erlebt hätte.

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