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Klassik Festival in Aix-en-Provence

Tristan und Isolde in der Metro

Freier Feuilletonmitarbeiter , Manuel Brug
Von Paris ans Meer: Simon Stone inszeniert Richard Wagners „Tristan und Isolde“ in der Provence Von Paris ans Meer: Simon Stone inszeniert Richard Wagners „Tristan und Isolde“ in der Provence
Von Paris ans Meer: Simon Stone inszeniert Richard Wagner in der Provence
Quelle: © Jean-Louis Fernandez
Nach einem Sommer ohne Festival wird in Aix-en-Provence wieder gesungen und gespielt. Südfrankreich öffnet seine schönste Freiluftoper. Mehr Premieren gab es nie: Bei Verdi ist die Inszenierung schöner und bei Wagner die Musik.

Wir Nordländer blicken stets sehnsüchtig auf dieses Musikfestival im Midi. Aix-en-Provence, das französische Salzburg, es verspricht laue Sternennächte, sanften Mistral, Platanen, honigfarbene Barockfassaden, Leichtigkeit des Seins zwischen Cours Mirabeau und dem Cour de l‘Archêveché, wo die unwiderstehliche Freiluftoper spielt, dem Rotonde-Brunnen und dem hässlichen, aber funktionalen Grand Théâtre de Provence, das 2007 für die fette Indoor-Oper hinzukam. Große Kultur in der kleinen Stadt, getragen vom duftend warmen Geist dieses schönen Ortes.

Aix, das ist aber längst auch eine gentrifizierte Touristenhochburg, wo sich samstagmorgens die Menge in engen Altstadtgassen drängelt und selbst die Marktverkäufer wie Statisten wirken zwischen all den Boutiquen mit Mandelplätzchen, Lavendelkissen, Sonnenblumenservietten und Kräutern der Provence. Der Mistral kann schneidend kalt darniederfahren, Regen ist gar nicht so selten, und auch die Festivalproduktionen wirken mit ihren vielen Co-Produzenten bisweilen wie massentaugliches Musiktheater von der Prêt-à-Porter-Stange.

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Und trotzdem: Man freute sich diesen Sommer ganz besonders auf den Festivalstart. Letztes Jahr war alles wegen der Pandemie ausgefallen, der neue Aix-Chef Pierre Audi, langjähriger Intendant der Holländischen Nationaloper, hatte gleich zwei Premierenjahrgänge vom Stapel zu lassen. Insgesamt sieben Produktionen, gleich vier davon von zwei Regisseuren, die hier eine Hauptrolle spielen sollen: Barrie Kosky und Simon Stone.

Ganz Ferienfrankreich scheint im Süden unterwegs zu sein, denn internationale Gäste sind nur spärlich zu sehen. Erstmals überhaupt dürfen in Europa die verschiedenen Spielstätten wieder zu hundert Prozent ausgelastet werden. Maske ist obligatorisch, wird aber nach Verlöschen des Saallichtes meistenteils auf halbmast gesetzt. Und während Taschenkontrollen nach wie vor streng sind, werden Impfpässe und Testzeugnisse nur stichprobenartig kontrolliert. Pausengastronomie gibt es keine, nicht mal Wasser während fünf Stunden Wagner. Und um zwölf ist hier alles dicht, Alkohol nach neun Uhr nicht mehr käuflich. Von oben befohlen gibt sich der Midi zugeknöpft bourgeois.

Mozart muss sein

Es gilt in Aix eine ungeschriebene Dramaturgie, an die sich Pierre Audi hält: Mozart muss dabei sein, etwas Experimentelles, klassisch wohlklingende Oper, Barockes und gern auch etwas aus dem 20. Jahrhundert. Barrie Kosky, längst so etwas wie der überall anzutreffende Jean-Pierre Ponnelle unserer Zeit, sollte schon letzten Sommer hier mit Rimsky-Korsakows farbig-böser Politsatire „Der goldene Hahn“ debütieren. Die Premiere war aber nun erst im Mai im koproduzierenden Lyon möglich, Ende Juli kommt die sehr gelungene Inszenierung nun in Aix heraus.

Dafür gibt es – als Koskys achte (!) Neuproduktion in dieser Saison – jetzt ebenfalls mit den Lyonern erarbeitet und später auch an die Komische Oper Berlin weiterwandernd, Giuseppe Verdis Opernabschied „Falstaff“: routiniert-vergnüglich und gar nicht trauervoll-weltweise.

Des Ritters Damen: Giuseppe Verdis „Falstaff“ von Barrie Kosky in Aix
Des Ritters Damen: Giuseppe Verdis „Falstaff“ von Barrie Kosky in Aix
Quelle: © Monika Rittershaus

Koskys und Christopher Purves dicker Ritter, das ist ein Mann mit gar nicht so viel Bauch, in den besten Jahren, der lustvoll seine Nabelschau betreibt in einer von Katrin Lea Tag mit grüner Tapete halbhoch beklebten, etwas verschmuddelten Osteria. Hier lässt er selbstkochend und prallgemüsebunt die Liebe durch den Magen gehen, zeigt ungeniert den nackten Hintern und feiert das Leben als Altrockstar mit stets passenden Perücken. In den Umbaupausen, wenn das von Daniele Rustioni schnurrig angeleitete, zugespitzt rhythmusgischtende Opernorchester aus Lyon schweigt, werden erotisch zugespitzt Rezepte verlesen. Und im Wohnzimmer der von Falstaff angeschmachteten lustigen Weiber von Windsor lockt ein Kuchenbuffet im knatschrosa Barbie-Bett, wo schon vor der amourösen Auszeit so manches Leckermäulchen seine Sahne schleckt.

Dem gelackmeierten Sir John bleibt am Ende von aller Völlerei nur ein schwarzverkohltes Toastbrot übrig, und der gagverliebt sein Personenkarussell drehende Barry biegt erstaunlich harmlos in die Fugenschlussgerade. Leider wird nicht besonders gut gesungen. Einzige, wirklich positive Vokalausnahme: der knackige Bariton Stéphane Degout, ein Aix-Akademie-Zögling der ersten Stunde, der in einer tollen Charakterstudie als Mister Ford in seiner Wutpermanenz brilliert; ganz besonders in Gigolo-Verkleidung mit fettigbraunem Haarersatz.

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Kroenung Napoleons, Ausschn./ J.L.David Napoleon I. Bonaparte, Kaiser der Franzosen; 1769-1821. - "Die Kroenung Napoleons" (am 2.Dez.1804 in der Kathedrale Notre-Dame in Gegen- wart des Papstes Pius VII.); Ausschnitt: Napoleon. - Gemaelde, 1806/7, von Jacques-Louis David (1748-1825) Oel auf Leinwand, 610 x 931 cm. Inv.3699 Paris, Musee du Louvre.
Krönungsmesse von 1804

Die Barockposition im plüschig-intimen Théâtre du Jeu de Paume markiert diesmal „Combattimento, die Theorie vom schwarzen Schwan“, ein Madrigal-Pasticcio mit köstlicher Musik von Buonamente, Cavalli, Carissimi, Rossi und anderen. Ausgehend von Monteverdis „Combattimento di Tacredi e Clorinda“ hat die gerade aus dem Romeo-Castellucci-Stall herumgereichte Silvia Costa gediegene, hundert etwas träge Klangminuten über Duelltod, Trauerarbeit, Wiederaufrichten und Rekonstruktion des Welt- wie des Gemütszustandes aufbereitet. Der klangsensibel sein makelloses Ensemble Correspondences zum Schweben bringende Sébastian Daucé erweist sich hier neuerlich als eines der spannendsten jüngeren Barockmusiktalente Frankreichs.

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Aus den acht beteiligten Sängern ragt in enigmatischen Solomomenten der erdige Mezzo von Lucile Richardot heraus. Und Silvia Costa lässt auf der schwarz ausgeschlagenen Szene mit vielen sprechenden Requisiten, von Neonlichtlanzen über einen Kindersarg bis hin zu einer kunstvoll wiederbelebten Miniaturlandschaft inklusive Regenwolken und Atompilzbaum, von Alpha bis Omega, ihre metaphorische Reise abrollen. Solide, wenig aufregend, in ihrem Symbolgehalt ostentativ, aber trotzdem durchaus ansprechend und sinnlich. Mitten im Publikum: Andrea Breth, die bei der Aix-Akademie die teilweise allzu naiven Zöglinge mit deutscher Regietheatertheorie erschreckt.

Am Meer der Mythen

Bei den Opernpremieren dieses Aix-Sommers erweist sich der ob seines rigiden Alltagsrealismus bei alten Stücken gehypte Simon Stone als denkbar falscheste Regiewahl für Richard Wagners hier erstmals gespieltes Anti-Liebesdrama. „Tristan und Isolde“. Zu lang und zu handlungsarm ist das für Stone, er hat Ideen und Fragen, gibt kaum Antworten, verzettelt sich in Zeit- und Bedeutungsebenen. Schon im Vorspiel lenkt die Feier unter Freunden eines älteren Paares in einem Edelloft, wo Isolde ihren Tristan beim Fremdküssen mit einer Jüngeren erwischt, entschieden ab. Wird der Beamerschalter umgelegt, verschwindet hinter den Panoramafenstern die Stadtsilhouette zugunsten eines mythischen Meeres.

Ist es ein Traum, ist es Isoldes Erinnerung? Nie wird das wirklich klar. Der zweite Akt spielt in einem Co-Working-Space, wo plötzlich Paardoubles im Liebesspiel um Tristan (angestrengt schwerfällig: Stuart Skelton) und Isolde (Nina Stemme: intensiv, aber langsam, nach 18 Partiejahren stimmlich verblühend) sich tummeln und fummeln. Tristan wird zum Anfang des dritten Akts gleich nochmals mit dem Cuttermesser von Melot tödlich verwundet – in der Pariser Metro, die aber nicht nur an den Stationen „Belleville“ oder „Republique“ haltmacht, sondern auch durch Mittelgebirge und am Meer surreal entlangsaust.

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Zwischen gleichmütigen, aber mustergültig divers gecasteten Statisten stirbt Tristan öde dahin. In der Station „Châtelet“, einst das Pariser Operettenhaus, steigt Isolde in goldener Abendrobe zu, singt ihren Liebestod, gibt Tristan den Ehering zurück und zieht mit Melot von dannen. Warum auch immer. Selten war so viel Regiebehauptung und so wenig (Er-)Lösung. Weil auch Jamie Barton als Brangäne hauptsächlich keift und Franz-Josef Seligs oft gehörter König Marke allzu gelassen und brav bleibt, muss Klangsteuermann Simon Rattle an der Spitze seines flüssig folgenden London Symphony Orchestra das Wagner-Ruder herumreißen.

Das schafft er gut. Wenn die geschwätzige Szene nicht ablenkt und nervt, hört man auch Schönes, Subtiles und Stimmiges. Das Stück hat Rattle im Griff. Und man freut sich irgendwie, ein ganzes britisches Orchester neuerlich auf dem Kontinent zu erleben. So weit sind wir schon.

Doch der mistralumwehte „Tristan“ aus dem römischen Theater von Orange Anno 1973, Birgit Nilsson und John Vickers unter Karl Böhm, angeleitet von Nikolaus Lehnhoff vor einem Leuchtsegel des Zero-Künstlers Heinz Mack, er wird als provenzalische Wagner-Legende weiterhin der dortige Maßstab bleiben.

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