Wenn Julia den falschen Romeo liebt – allerlei Abschiede am Opernhaus

Zum Ausklang der zweiten Zürcher Spielzeit unter Corona-Bedingungen flüchtet sich Lucia di Lammermoor in den Wahnsinn. Generalmusikdirektor Fabio Luisi hingegen verlässt das Opernhaus in dem Bewusstsein, dass das Feld für seinen Nachfolger bestellt ist.

Christian Wildhagen
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Sie konnten zueinander nicht kommen: Lucia (Irina Lungu) bleibt die Liebe zu ihrem Jugendfreund Edgardo verwehrt. Verwundet an Körper und Seele, flieht sie in den Wahnsinn.

Sie konnten zueinander nicht kommen: Lucia (Irina Lungu) bleibt die Liebe zu ihrem Jugendfreund Edgardo verwehrt. Verwundet an Körper und Seele, flieht sie in den Wahnsinn.

Herwig Prammer

Das besondere Instrument hat seinen Auftritt, als alles schon zu spät ist. Ganz zart und zerbrechlich zittern seine Töne durch den Raum, kaum zu fassen sind sie, fremdartig, jenseitig – und fast so zart und zerbrechlich wie die Seele der Protagonistin, die in diesem Moment oben auf der Bühne des Opernhauses den Verstand verliert. Halt geben können ihr die flüchtigen Klänge nicht mehr im namenlos gewordenen Leid. Aber sie sind mit ihrem gläsern-scharfen Kern, der für den Bruchteil einer Sekunde tief in die Ohren schneidet, eine perfekte Chiffre: für die tausend und abertausend Nadelstiche, Messerschnitte, Schwertstreiche, mit denen man Lucia das Leben zur Hölle gemacht hat.

Lucia di Lammermoor, die berühmteste «Verrückte» auf der Opernbühne, ist in diesem Augenblick völlig bei sich. Das einzige Gegenüber, das sie noch wahrnimmt, ist jener exotisch anmutende Apparat im Orchestergraben, aus dem die sphärischen Töne zu ihr hinaufdringen. Ein äusserst seltener Gast sitzt da, allein in einer Ecke, weil der Rest des Orchesters mitsamt dem Chor – wie bei allen Zürcher Premieren seit Herbst 2020 – ins Probenlokal am Kreuzplatz ausgelagert wurde. Es ist eine Glasharmonika, die ihre zart-schneidenden Signale in die Gegenwelt von Lucias Wahnsinn sendet. Mit ihr hält die Gequälte nun buchstäblich Zwiesprache, bis sie für immer verstummt.

Viel Psychologie

Die ungewöhnlichste Szene der Zürcher Neuproduktion von Gaetano Donizettis «Lucia di Lammermoor» ist zugleich deren stärkste. Denn mit dem Rückgriff auf die vom Komponisten in der «Wahnsinnsszene» ursprünglich verlangte Glasharmonika (die seit der Uraufführung zumeist durch eine obligate Flöte ersetzt wird) gelingt dem Produktionsteam um die Dirigentin Speranza Scappucci und die Regisseurin Tatjana Gürbaca ein Coup de théâtre: Unversehens entsteht da jene so nur in der Oper mögliche Musik-Magie, deren Zauber mit den Mitteln der Ratio und des analytischen Intellekts nicht mehr vollständig zu ergründen ist.

An diesem Zutrauen zur rein emotionalen Wucht und theatralen Wirksamkeit der Oper fehlt es dem Abend sonst leider über weite Strecken. Mag sein, dass die schwierigen Produktionsbedingungen bei der eigentlich längst abgesagten, dann kurzfristig wieder in den Spielplan genommenen Premiere zu einer gewissen Überambition geführt haben. Oder dass der Abend, der bis zum Ausklang der Spielzeit Ende Juni noch dreimal zu sehen ist, einfach etwas Zeit braucht, um zu reifen. Man wird das bei der geplanten Wiederaufnahme im Mai 2022 beurteilen können.

Jedenfalls reicht es der Regisseurin nicht, einfach die klassische «Julia liebt den falschen Romeo»-Geschichte der Lucia zu erzählen, deren Sippe mit allen Mitteln gegen die Verbindung mit ihrem Geliebten Edgardo intrigiert – nur, weil der aus dem verfeindeten Geschlecht derer von Ravenswood stammt. Gürbaca interessiert sich vielmehr für die Frage, warum Lucia eigentlich verrückt wird. Das ist legitim, befrachtet aber das in seinem Handlungsgerüst recht schlichte Stück mit arg viel Psychologie. Die wohlbekannten Deutungsangebote reichen dabei von frühen Traumata (dargestellt durch kindliche Doubles) bis zu einem angedeuteten Missbrauch durch den Bruder Enrico.

Lucia di Lammermoor (Irina Lungu) hat in Tatjana Gürbacas Zürcher Inszenierung mit Traumata aus der Kindheit zu kämpfen.

Lucia di Lammermoor (Irina Lungu) hat in Tatjana Gürbacas Zürcher Inszenierung mit Traumata aus der Kindheit zu kämpfen.

Herwig Prammer

Piotr Beczała zeigt als Edgardo nicht allzu viel Lust, sich tiefer auf dieses Konzept einzulassen. Stimmlich in Bestform, gelingt ihm das perfekte Porträt eines leidenschaftlichen Liebhabers, der so oder ähnlich allerdings auch in Dutzenden anderen Belcanto-Opern auftritt. Die Russin Irina Lungu wählt weniger strahlende, auch manchmal bewusst brüchige Farben für die Titelrolle. Ihr herbes Timbre folgt der heute üblichen (und historisch wohl korrekten) Strategie, die Titelrolle nicht mehr mit einem reinen Koloratursopran à la Sutherland oder Gruberová zu besetzen. Gleichwohl weiss auch Lungu um die Macht zirzensischer Koloraturen und sicher platzierter Spitzentöne.

Mit diesen kämpft hingegen Massimo Cavalletti als Gegenspieler Enrico. Der Bariton setzt seine Stimme vor allem in der Höhe bedenklich unter Druck; seine Verve und sein darstellerisches Engagement jedoch wirken absolut glaubwürdig. Etwas von dieser Energie hätte man sich in den zahlreichen Nebenrollen gewünscht, die allesamt zu wenig vokales Profil gewinnen. Auch das Dirigat von Speranza Scappucci bleibt kapellmeisterlich solide; individuelle gestalterische Impulse setzt sie noch zu selten.

Liebevolle Feinzeichnung

Anregungen für eine individuellere Gestaltung in einem klar gesetzten Rahmen hätte sie sich, zum Beispiel, bei Fabio Luisi holen können. Der Generalmusikdirektor nahm am Vorabend der «Lucia»-Premiere mit Bruckners 7. Sinfonie seinen Abschied vom Opernhaus und von der Philharmonia Zürich – nach neun Jahren und fast 300 Dirigaten. Auch Luisi geht, ähnlich wie Scappucci, von einem genau definierten Tempo und einem präzisen rhythmischen Pulsschlag aus. Dies hilft namentlich dem leicht zerfasernden Finalsatz der Siebten, der hier bis zum E-Dur-Rausch des Schlusses die Spannung hält.

Gleichzeitig nimmt sich Luisi aber an entscheidenden Stellen auch die nötige Zeit, um Übergänge organisch zu gestalten und Schlüsselstellen wie die herrlich aufblühenden Einsätze der Cellogruppe im Kopfsatz gebührend hervorzuheben. Auch die berühmte Wagner-Apotheose im Adagio hat Kraft, Grösse und Glanz. Vom triefenden Pathos mancher Dirigenten aus der teutonischen Bruckner-Tradition bleibt Luisi dennoch meilenweit entfernt – ein Mann der allzu grossen Gesten war er ja ohnehin nie. Hier aber spürt man noch einmal exemplarisch, wie sehr Luisis Sachlichkeit und Präzision mit einem Zugewinn an Farben und einer fast liebevollen Feinzeichnung der Partitur einhergehen.

Die Philharmonia Zürich, die Luisi ihren heutigen Namen verdankt, legt sich für ihren Chef noch einmal mächtig ins Zeug. Der Klang leuchtet und glüht gleichsam von innen – was unter den schwierigen akustischen Bedingungen der Konzertmuschel im Opernhaus eine besondere Leistung darstellt. Luisis Nachfolger Gianandrea Noseda sollte trotzdem über eine – zumindest gelegentliche – Rückkehr in die sanierte Tonhalle nachdenken. Denn er übernimmt ein bestens aufgestelltes Orchester, das sich durch ein direktes Kräftemessen mit dem dort bald wieder residierenden Zürcher Platzhirsch nur noch weiter steigern kann.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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