«Lear» in München: Der Mensch endet in der Vitrine

Die Bayerische Staatsoper wagt 43 Jahre nach der Münchner Uraufführung eine Neuproduktion von Aribert Reimanns «Lear». Christian Gerhaher übernimmt die einst für Fischer-Dieskau geschaffene Titelrolle. Ein Kraftakt, der sich lohnt.

Marco Frei, München
Drucken
Zwei Ausstellungsstücke aus dem Anthropozän: Lear (Christian Gerhaher) und seine verstossene Tochter Cordelia (Hanna-Elisabeth Müller) im Münchner «Lear» von Aribert Reimann.

Zwei Ausstellungsstücke aus dem Anthropozän: Lear (Christian Gerhaher) und seine verstossene Tochter Cordelia (Hanna-Elisabeth Müller) im Münchner «Lear» von Aribert Reimann.

Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Es geschieht nicht alle Tage, dass ein Werk des zeitgenössischen Musiktheaters nach der Uraufführung eine weitere Neuinszenierung am selben Haus erfährt. Mit der Shakespeare-Oper «Lear» von Aribert Reimann hatte die Bayerische Staatsoper 1978 einen veritablen Coup gelandet. Die damalige Premiere dieses modernen Meisterwerks im Rahmen der Münchner Opernfestspiele ist auf Bild- und Tonträgern dokumentiert – mit keinem Geringeren als Dietrich Fischer-Dieskau in der Titelrolle. Der legendäre, 2012 verstorbene Bariton hatte seinen langjährigen Liedbegleiter Reimann zu der Oper angeregt.

Die jetzige Neuinterpretation hält einen Vergleich spielend aus. Für seinen Einstand am Nationaltheater hat der Schweizer Regisseur Christoph Marthaler ein weiteres Mal mit seiner langjährigen Bühnenbildnerin Anna Viebrock zusammengearbeitet, unterstützt von Joachim Rathke. Sie lassen ihren Münchner «Lear» – eine auffallend häufig gebrauchte Metapher der Opernregie unserer Tage – in einem Museum spielen. Darin sind allerlei Objekte ausgestellt, freilich nicht bloss tote Falter, sondern auch Menschen.

Alles im Übermass

Es sind die handelnden Personen des Shakespeare-Stücks. Ein etwas gelangweilter Museumswächter empfängt die Besucher, die Führung kann beginnen – und mit ihr die Menschheitstragödie. Die ironische Distanzierung ist ein Markenzeichen von Marthaler und Viebrock, bekannt aus ihrer gemeinsamen Zeit am Zürcher Schauspielhaus. Mit ihr weht etwas herüber vom Geist der ironischen Brechung aus dem Theater Bertolt Brechts. Da ist es nur konsequent, dass selbst der Narr von Graham Valentine, eine Sprechrolle, mehr wie ein Hampelmann vom Jahrmarkt wirkt, nicht aber wie ein (immer wahrhaftiger) «Gottesnarr», wie er später von Puschkin in die Literatur eingeführt wurde.

Diese (pseudo-)epische Distanz mag als Stilmittel Marthalers allmählich redundant erscheinen, hier jedoch passt sie vortrefflich. Reimanns Musik ist nämlich konkret und emotionsgeladen genug – ganz so wie die Vorlage Shakespeares. Schon dessen «King Lear» von 1604/05 will ja kein psychoanalytisches Schuld-und-Sühne-Drama sein, wie man vor allem in der deutschsprachigen Rezeption lange geglaubt hat; eher ist es ein expressionistischer Ausbruch avant la lettre.

«Noch selten ist die Einsamkeit des Menschen so überzeugend aus dem Faktum her gezeichnet worden,
dass er dem Mitmenschen gegenüber blind ist.»
Dietrich Fischer-Dieskau über Reimanns «Lear»

Alles in dieser Tragödie tendiert zum Übermass, die rohe Gewalt auf offener Szene genauso wie die abrupten Gefühlsausbrüche. In der Apokalypse, die Shakespeare ausstellt, werden lange vor unserer heutigen Diskussion alle Spielarten eines Machtmissbrauchs greifbar, der die Zivilisation in den Abgrund reisst. Die Libretto-Adaption von Claus H. Henneberg basiert auf der deutschen Übersetzung von Johann Joachim Eschenburg aus den 1770er Jahren. Mit ihrer rohen, ungeschminkten und theatralischen Sprache kommt sie dem Original atmosphärisch sehr nah.

Gleichzeitig schärft und bündelt Henneberg die Handlung klug, auch indem er auf (damals noch neuartige) Simultanszenen setzt. Das hilft der Oper enorm. Im ausgehenden 20. Jahrhundert gibt es nur wenige Beispiele, die den wuchernden Wahnsinn derart vielgestaltig in Musik übertragen haben. Im Vergleich dazu wirken viele jüngere Shakespeare-Vertonungen oft bloss dekorativ, so auch das 2019 in Brüssel uraufgeführte Stück «Macbeth Underworld» von Pascal Dusapin.

Balance-Probleme

Die Ereignisdichte in Reimanns «Lear» ist musikalisch allerdings weit subtiler, als es jetzt in München die Leitung von Jukka-Pekka Saraste suggeriert. Über weite Strecken, zumal im ersten Teil der Oper, herrscht im Bayerischen Staatsorchester ein irritierend vordergründiger Bombast vor. Wie sehr Reimann aber um grösstmögliche Differenzierung ringt, zeigen allein die vielen Cluster-Passagen der Streicher. Diese Klangflächen sind vielschichtig verwoben und vierteltönig abgestuft. Von wüsten Forte-Orgien ist die Musik weit entfernt.

Indes muss man Saraste zugutehalten, dass er sich pandemiebedingt mit tückischen Auflagen konfrontiert sieht. So werden Chor, Blech und Schlagwerk aus anderen Räumen in Echtzeit über Lautsprecher zugespielt; man folgt dem Modell, das die Zürcher Oper im Herbst 2020 mit dem «Boris Godunow» etabliert hat. Die Balance ist dabei eine besondere Herausforderung; so mussten die Solisten an der Premiere wiederholt gegen die orchestrale Übermacht ansingen. Damit hatte namentlich Angela Denoke als Lear-Tochter Goneril stellenweise Probleme.

Wie gut, dass Exponate im Museum in der Regel schweigen: Anna Viebrocks Bühnenbild für Marthalers «Lear»-Inszenierung in München.

Wie gut, dass Exponate im Museum in der Regel schweigen: Anna Viebrocks Bühnenbild für Marthalers «Lear»-Inszenierung in München.

Wilfried Hösl /
Bayerische Staatsoper

Dafür aber gab Denoke zusammen mit Aušrinė Stundytė als Regan ein abgrundtief böses Geschwisterpaar ab. Ihr Pendant sind die Gloster-Söhne: der rachsüchtige Edmund von Matthias Klink sowie der hysterisch-verrückte Edgar, gesungen vom Countertenor Andrew Watts. Das Widerwärtige im Menschen ist eben keine Frage des Geschlechts – noch so eine frappierend aktuell wirkende Erkenntnis des alten Shakespeare. Besonders fesselnde Rollenporträts gelingen Georg Nigl als ver- und real geblendeter Graf Gloster wie auch Hanna-Elisabeth Müller. Ihre naiv-verträumte Cordelia wirkt in den Kostümen von Dorothee Curio wie ein «Lady Di»-Verschnitt.

Erkenntnis in Sandalen

Die eigentliche Grosstat des Abends aber gelingt Christian Gerhaher bei seinem Rollendebüt als Lear. Wie dieser irre König um Rationalität ringt, völlig empathielos und jeden Weitblick vermissend, das ist im besten Sinn schauerlich – umso mehr, als Gerhaher seinen Lear im Gesang glasklar ausartikuliert. Jedes einzelne Wort ist nicht nur verständlich, sondern erfährt klanglich eine eigene Färbung und Sinngebung. Und das ganz ohne jenen Manierismus, für den Fischer-Dieskau nach der Uraufführung bisweilen kritisiert wurde.

Am Ende streift Gerhahers Lear wirr stammelnd über die Bühne, ohne Hose und in Birkenstock-Sandalen. Ein kleines Männlein sucht die grosse Erkenntnis und schleppt sich, ernüchtert, in eine Ausstellungsvitrine. Der Museumswärter bereitet alles vor für die nächste Führung. Das Licht geht aus, es schliesst sich der Vorhang über einer Produktion, die fraglos zum Stärksten gehört, was die im Sommer ausklingende Ära von Nikolaus Bachler an der Staatsoper hervorgebracht hat.

Die Neuproduktion wird am 30. Mai um 18 Uhr als kostenloser Live-Stream auf der hauseigenen Website staatsoper.tv sowie auf BR-Klassik übertragen.

Bayerische Staatsoper / Youtube

Mehr von Marco Frei (frm)