Diese Barockoper ist ein Horrorfilm

An der Oper Genf folgt Franck Chartier mit seiner Kompanie Peeping Tom den Spuren von Pina Bausch und Sasha Waltz. Seine choreografische Version von Purcells «Dido and Aeneas» schillert zwischen Shakespeare und Beckett.

Martina Wohlthat
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Sündiges Höllenspektakel: Henry Purcells «Dido and Aeneas» am Grand Théâtre de Genève.

Sündiges Höllenspektakel: Henry Purcells «Dido and Aeneas» am Grand Théâtre de Genève.

Carole Parodi / GTG

Obwohl die Episode aus Vergils «Aeneis» in der Barockzeit mehrfach vertont wurde, steht von allen diesen Werken vor allem eine Oper in der Gunst des Publikums: Henry Purcells «Dido and Aeneas». Die Geschichte wird hier aus weiblicher Perspektive erzählt – was in der Restaurationszeit keineswegs selbstverständlich war, als man nach dem Bürgerkrieg die Monarchie prunkvoll wiederhergestellt sehen wollte. Bei der jüngsten Aufführung von Purcells Oper als Tanztheater am Grand Théâtre de Genève lassen die Assoziationen und Ideen des Choreografen Franck Chartier und seiner belgischen Tanzkompanie Peeping Tom das England des 17. Jahrhunderts allerdings weit hinter sich.

Aeneas ist aus dem zerstörten Troja geflohen und bei Königin Dido in Karthago gelandet, die ihn im holzgetäfelten Salon zu einer gepflegten Tasse Tee empfängt. Doch dann will der Strom aus der silbernen Teekanne gar nicht mehr aufhören und überflutet den Teppich. Eine mächtige Düne aus Sand schiebt sich durch das Fenster in den bürgerlichen Salon. Schliesslich steckt die Schauspielerin Eurudike De Beul wie eine Beckett-Figur bis zum Kopf im Sandhaufen. Schöne Bescherung.

In der Geschichte gefangen

Des Rätsels Lösung: Chartier erzählt «Dido and Aeneas» als Geschichte in der Geschichte. Eurudike De Beul liegt mit ihrer massigen Gestalt im Bett unter den weissen Laken, die wie Leichentücher aussehen. Die Tänzerinnen und Tänzer von Peeping Tom eilen als dienstbare Geister herbei, helfen beim Aufstehen und Ankleiden – dann wird bei der Dame des Hauses, wohl nicht zum ersten Mal, die Oper «Dido and Aeneas» aufgeführt.

Die alte Lady hat den Tod ihres Gatten nämlich auch nach vielen Jahren nicht überwunden und ist von «Dido and Aeneas» besessen. Es folgen Szenen wie aus Billy Wilders Film «Sunset Boulevard». Isoliert und vergessen lebt die alte Dame in ihrer prunkvollen Villa (Bühnenbild: Justine Bougerol). Aeneas kommt zum Tee vorbei, das Getränk flutet auf den Teppich, der Sand dringt durch Ritzen und Fenster, dazu singt der amerikanische Bariton Jarrett Ott als Aeneas einen von Purcells melancholischen Songs: «O solitude, my sweetest choice.» Als Zuschauer sind wir mit Eurudike De Beul da schon längst in ihrem Kopf und in dieser Geschichte gefangen.

Die Stimmen in ihrem Kopf gehören nicht nur Dido und Aeneas, sondern auch der Zauberin und den Hexen, die hier drastisches Unheil anrichten. Chartier hat sich für die Inszenierung von Purcells Hexenszene inspirieren lassen und macht daraus ein Drama von Shakespeareschen Dimensionen.

Ein bisschen Beckett, ein bisschen Shakespeare: Szene aus Purcells «Dido and Aeneas» am Grand Théâtre de Genève.

Ein bisschen Beckett, ein bisschen Shakespeare: Szene aus Purcells «Dido and Aeneas» am Grand Théâtre de Genève.

Carole Parodi / GTG

Die Mezzosopranistin Marie-Claude Chappuis singt neben der Rolle der Dido auch die Partie der missgünstigen Zauberin. Das verklammert die beiden Handlungsebenen auf surreale Weise: Auf dem Bett der Lady beraten die Zauberin und die Hexen feixend, wie sie Dido ins Unglück stürzen können – wobei die eine Hexe in Horrorfilm-Manier den eigenen Kopf im Arm hält. Getanzt wird teilweise in «slow motion», um den Schrecken der Szenen noch zu unterstreichen. Es herrscht eine unheilschwangere Atmosphäre, die ein schlimmes Ende ahnen lässt.

Da öffnet sich eine Tür an der Bühnenrückseite und gibt den Blick auf das Schlachtfeld des Trojanischen Krieges frei. Der Tänzer Romeu Runa steht dort blutüberströmt mit einer Axt in der Hand. Neben ihm zucken die Tänzerinnen und Tänzer in der Bühnen-Apokalypse wie unter Stromschlägen. Später schlägt eine Tänzerin die Zähne in die entblösste Brust ihres Partners. Hier nähert sich die Kamera so weit, dass wir der vampirhaften Rachegöttin ins Gesicht sehen können.

Amor trauert

Das Geschehen auf der Bühne überformt und überfordert Purcells Oper mächtig. Es ist zwar überliefert, dass die Ehefrau des Komponisten zur Strafe für dessen ausgedehnte Pub-Besuche die Haustür von innen verriegelte; von Kannibalismus ist hingegen nichts bekannt. Tanz und Theater dürfen schockieren, wenn daraus neue Blickwinkel auf das Stück entstehen. Das erscheint hier jedoch fraglich. Dazu passt, dass Didos berühmtes Lamento am Schluss im allgemeinen Trubel buchstäblich untergeht.

Purcells Oper, die 1689 an einer Londoner Mädchenschule aufgeführt wurde, ist mit fünfzig Minuten ziemlich kurz. Um das Stück auf ein abendfüllendes Format zu bringen, interpoliert man in die Genfer Inszenierung musikalische Zwischenspiele von Atsushi Sakaï, einem Mitglied des Concert d’Astrée. Die loopingartigen Klänge für die Streicher reissen die Originalmusik auseinander, die alten und neuen Teile wachsen aber im Verlauf des Abends nicht zusammen. Der Dialog zwischen den Sängerinnen und der Tanzkompanie erscheint zudem recht distanziert. Man fragt sich, ob Chartier, der sich hier wie seine Vorgängerinnen Pina Bausch und Sasha Waltz auf das Feld der choreografischen Oper wagt, mit einer neu komponierten, zeitgenössischen Musik nicht besser bedient gewesen wäre.

Für akustischen Tiefgang sorgt das Ensemble Concert d’Astrée unter seiner Dirigentin Emmanuelle Haïm. Ihr dramatischer Zugriff, gepaart mit klanglicher Eleganz, macht die Musik trotz der Distanz der digitalen Übertragung unmittelbar lebendig. Der Kontrast zwischen Musik und Szene am Schluss der Oper könnte kaum grösser sein: Didos Klagegesang «When I Am Laid in Earth» wird von Marie-Claude Chappuis mit zarten Zwischentönen ausgestattet, während unmittelbar daneben die nackte Eurudike De Beul von einer Pflegerin gewaschen wird. Dieser schonungslose Anblick von Hilflosigkeit und Vergänglichkeit tut beim Hinschauen richtig weh. Kein Wunder, dass Amor zum Schlusschor betrübt die Flügel hängen lässt.

Die Genfer Neuproduktion von «Dido and Aeneas» läuft bis auf weiteres in der gefilmten Version auf dem Kulturkanal Arte Concert. Später soll sie live an den Häusern der beiden Koproduktionspartner, Les Théâtres de la Ville de Luxembourg und Opéra de Lille, zu sehen sein.

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