Im «Live-Kino» gewesen, geweint und gelacht: Die Oper Zürich zeigt «Hoffmanns Erzählungen»

Das Opernhaus kämpft derzeit nicht nur mit den Corona-Beschränkungen, sondern auch mit Vorwürfen des Machtmissbrauchs hinter den Kulissen. Bei der jüngsten Streaming-Premiere gelingt ihm nun zumindest ein künstlerischer Befreiungsschlag.

Christian Wildhagen
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Der Dichter Hoffmann (Saimir Pirgu, vorne) wird von den Gespenstern seiner Vergangenheit eingeholt.

Der Dichter Hoffmann (Saimir Pirgu, vorne) wird von den Gespenstern seiner Vergangenheit eingeholt.

Monika Ritterhaus / Opernhaus Zürich

So ganz wohl fühlt sich Andreas Homoki zurzeit nicht in seiner Haut. Der Intendant der Oper Zürich schaut jedenfalls, soweit man das bei seinem kurzen Auftritt im Live-Stream an diesem Sonntagabend erkennen kann, ungewohnt mürrisch und angespannt drein. Kein Wunder freilich – schippert doch sein Operntanker derzeit durch ziemlich raue See.

Zur allgemeinen Misere der Kulturwelt in der Corona-Pandemie, die den regulären Spielbetrieb seit Monaten lahmlegt, kamen jüngst Vorwürfe des Machtmissbrauchs gegen den Zürcher Operndirektor Michael Fichtenholz, dem unterdessen mehrere anonym bleibende Quellen via SRF sogar körperliche Übergriffe auf Untergebene im Umfeld des Internationalen Opernstudios vorgehalten haben.

Ein Kraftakt

Die Intendanz hat die Vorwürfe des Machtmissbrauchs bereits durch eine externe Fachstelle untersuchen lassen – Justiziables konnte dabei nach Angaben des Opernhauses nicht festgestellt werden. Mittlerweile hat sie ausserdem die Belegschaft zur Stimmung und zu problematischen Machtstrukturen am Haus befragt. Dieses Vorgehen und die weitgehend transparente Kommunikation der Ergebnisse in der Öffentlichkeit wirkten durchaus vorbildlich.

Doch gebannt ist der Ungeist damit noch lange nicht. Es bleiben Fragen – zum einen in der Causa des Operndirektors Fichtenholz, der das Haus zum Sommer auf eigenen Wunsch (so die Sprachregelung) verlassen wird; zum andern in vereinzelten weiteren Fällen von unangemessenem Verhalten, etwa aufseiten von Vorgesetzten oder Gastkünstlern, die mehrheitlich erst durch die Umfrage ans Licht gekommen sind. Sie alle werden das Haus in den nächsten Monaten absehbar weiter in Atem halten – denn Schweigen oder Aussitzen, wie es lange Zeit Usus war im Kulturbereich, ist heutzutage nicht mehr möglich und würde das Haus kaum intern befrieden.

In einer solchen Situation die Premiere einer ausgewachsenen Grand Opéra auf die Bühne zu bringen, ist mehr als eine Herausforderung – es ist, unter den erschwerten Produktionsbedingungen in der Pandemie zumal, ein Kraftakt sondergleichen. Vielleicht also schaut Homoki an diesem Abend gar nicht mürrisch, sondern trotzig. Zurück zum Kerngeschäft, lautet vorderhand seine Devise. Und den Kopf in den Sand zu stecken, das war noch nie die Sache dieses Intendanten – auch wenn jetzt mindestens so viel Aufklärungsarbeit vor ihm liegt wie Inszenierungshandwerk hinter ihm. Die Regie bei «Hoffmanns Erzählungen» von Jacques Offenbach hat sich Homoki nämlich gleich auch noch aufgebürdet.

Mehr Chance als Surrogat

Ein bisschen viel auf einmal, denkt man skeptisch. Doch zum Glück sind der Produktion die schwierigen Umstände ihrer Entstehung kaum anzumerken. Sieht man einmal ab von den fast schon zur Gewohnheit gewordenen Besonderheiten, dass die Philharmonia Zürich und der Chor des Hauses bei dieser live auf der Website des Hauses übertragenen Premiere ein weiteres Mal per Glasfaserkabel vom nahe gelegenen Probenlokal am Kreuzplatz zugespielt werden und dass alle Beteiligten einem permanenten Monitoring durch Schnelltests unterliegen.

Obwohl die praktischen Probleme und die damit verbundenen mentalen Belastungen nicht geringzuachten sind, scheint sich das Prozedere mittlerweile eingespielt zu haben. Kein Grund also, angespannt oder mürrisch zu gucken. Einen solchen gibt es ebenso wenig bei der Gestaltung der audiovisuellen Übertragung, also dem Streaming. Auch hier hat das Opernhaus in Eigenregie inzwischen einen Grad an Professionalisierung erreicht, von dem etwa viele deutsche Bühnen nur träumen können – sofern man sie denn überhaupt noch spielen lässt.

In Zürich ist man dank der Beharrlichkeit, mit der jede Ausnahmeregelung in den lokalen Corona-Bestimmungen wenigstens für einen telemedialen Spielbetrieb genutzt wurde, seit dem Herbst sichtbar weitergekommen. Nach bald einem halben Dutzend Streaming-Premieren mit abendfüllenden Werken hat man nun auch jene anfängliche Phase hinter sich gelassen, in der das Streaming-Format eher als Surrogat und notwendiges Übel denn als Chance begriffen wurde. So gelingt es etwa der moderierenden Dramaturgin Beate Breidenbach und dem Bratscher Sebastian Eyb, die zwei Pausen gewinnbringend mit Einführungs- und Hintergrundgesprächen zu füllen, mehrere Live-Schalten zwischen Opernhaus und Kreuzplatz inbegriffen.

«Wir machen Kino, aber live»

Vor allem aber nutzt die Video-Regie nunmehr verstärkt die Möglichkeiten einer variableren Bildführung durch Close-ups und ungewöhnliche Kameraperspektiven. Dies war immer schon der Mehrwert einer Fernsehübertragung gegenüber dem notgedrungen starren Blickwinkel der Zuschauer vor Ort. Ganz geheuer ist dem Theaterpraktiker Homoki der Kontrollverlust dennoch nicht, obwohl die Bildregie bis ins Detail mit ihm abgestimmt ist. «Wir machen hier jetzt Kino, aber live», meint er scherzhaft im Gespräch mit Breidenbach – und scheint sich selbst nur halb bewusst zu sein, wie genau der paradoxe Begriff «Live-Kino» die Sache trifft.

Seine Inszenierung, wie gewohnt durch das Bühnenbild und die Kostüme von Wolfgang Gussmann leicht stilisiert und ins Typenhafte überzeichnet, profitiert auf jeden Fall vom Opernglas-Effekt der Kameraführung. Sie ist nämlich als Kammerspiel angelegt, in dem die phantastisch-bizarren Erzählungen des Dichters E. T. A. Hoffmann von seinen drei gescheiterten Liebesbeziehungen – zur Puppe Olympia, zur schwindsüchtigen Sängerin Antonia und zur venezianischen Kurtisane Giulietta – als klar herausgehobene Imaginationen auf einer rautenförmigen Spielfläche im Zentrum der Bühne gezeigt werden.

Simsalabim: Der multiple Bösewicht Lindorf (Andrew Foster-Williams) lässt das rauschhafte Spiel der Phantasie beginnen.

Simsalabim: Der multiple Bösewicht Lindorf (Andrew Foster-Williams) lässt das rauschhafte Spiel der Phantasie beginnen.

Monika Ritterhaus / Opernhaus Zürich

Der Verzicht auf allzu grosse Opulenz, in der «Les contes d’Hoffmann» nicht selten ertränkt werden, schärft im Gegenzug den Blick auf die raffinierte Konstruktion des Librettos von Jules Paul Barbier. Mit der feuchtfröhlichen Rahmenhandlung in «Luthers Weinkeller» und den in den Binnenakten als Rückblenden präsentierten Liebesgeschichten des Dichters übertrug Barbier als einer der Ersten literarische Techniken auf die Opernbühne.

Homoki wiederum hat besonders die Sängerin Stella ins Herz geschlossen, die in älteren Aufführungsfassungen des nicht ganz fertiggestellten Werks eine stumme Rolle war, unterdessen aber, nach Manuskriptfunden in Offenbachs Nachlass, auch einige Takte singen darf. Für Homoki ist Stella (Erica Petrocelli) nicht das Dummchen, um dessen Garderobenschlüssel es dem Dichter letztlich geht, sondern eine selbstbewusste Künstlerin, die sich am Schluss gleichermassen von Hoffmann wie von dessen Gegenspieler Lindorf emanzipiert. Die in der «Apothéose» besungene Liebe («On est grand par l’amour») gibt es mit ihr nur auf Augenhöhe.

Diese charmante, ein wenig vom Zeitgeist inspirierte Idee passt gut zu dem kraftvollen, stimmlich herausragenden Hoffmann, den Saimir Pirgu mit Attacke, sicherer Höhe und etwas italienischem Legato-Schmelz gestaltet. Den ausufernden Alkoholrausch des Originals braucht es bei ihm nicht, auch wenn Hoffmanns Muse – die bezaubernd subtile Alexandra Kadurina, die hier obendrein eine finale Wendung zum Guten herbeiführt – anfangs, ganz textgetreu, einem Fass entsteigt. Statt am Wein berauscht sich Pirgus Hoffmann immer hingebungsvoller an den eigenen Visionen. Und wer wollte es ihm verdenken angesichts der mit Katrina Galka, Ekaterina Bakanova und Lauren Fagan jeweils sehr stark und charakteristisch besetzten Frauenrollen!

Mit seiner nie lauten, eher ironischen Dämonie macht Andrew Foster-Williams in den Rollen der vier Bösewichte das Sängerglück perfekt, und Antonio Fogliani findet am Pult der Philharmonia eine ideale Balance zwischen den prickelnden Offenbachiaden und den leidenschaftlicheren Tönen der (ganz) grossen Oper. Am Ende, beim Verneigen vor den Kameraaugen im sonst befremdlich leeren Zuschauerraum, sieht man in lauter strahlende Gesichter. Sogar der Intendant lächelt befreit. Die Kunst vermag’s.

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Die Produktion ist auf der Website des Opernhauses bis 30. April abrufbar.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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