Amor hält die Uhren an: ein neuer «Rosenkavalier» – live an der Bayerischen Staatsoper

Schon vor seinem Antritt als Generalmusikdirektor hat Vladimir Jurowski in München seine erste Strauss-Premiere geleitet. Konnte er die per Live-Stream und im Fernsehen übertragene Feuerprobe bestehen?

Marco Frei, München
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Die Brautwerbung des Rosenkavaliers (Samantha Hankey, links) bei Sophie (Katharina Konradi) nimmt eine ungeplante Wendung – kein Wunder, wenn Amor die Zügel in der Hand hat.

Die Brautwerbung des Rosenkavaliers (Samantha Hankey, links) bei Sophie (Katharina Konradi) nimmt eine ungeplante Wendung – kein Wunder, wenn Amor die Zügel in der Hand hat.

Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Als Kirill Petrenko im Herbst 2010 offiziell zum Nachfolger von Kent Nagano am Münchner Nationaltheater ernannt wurde, jubelte das Bayerische Staatsorchester einstimmig. Seine Berufung zum Generalmusikdirektor war für viele ein Befreiungsschlag. Inzwischen wirkt Petrenko bei den Philharmonikern in Berlin; ihm folgt im Herbst Vladimir Jurowski nach. Als der bald 49-Jährige 2018 offiziell zum Nachfolger Petrenkos in München ernannt wurde, waren die Reaktionen nicht ganz so einhellig.

Mit der Zeit sind die zweifelnden Stimmen zwar weniger geworden, aber nicht verklungen. Umso grösser war die Spannung bei einer Neuproduktion des «Rosenkavaliers» von Richard Strauss, die am Sonntag live im Streaming und auf Arte ausgestrahlt wurde. Immerhin zählt Strauss, neben Mozart und Wagner, zu den Hausgöttern der Bayerischen Staatsoper. Noch dazu hielt sich die Vorgängerinszenierung von Otto Schenk seit 1972 im Repertoire und genoss Kultstatus.

Corona-bedingt gestutzt

Ob die Regie von Barrie Kosky die Feuerprobe bestanden hat, ist leichter zu beantworten als die Frage nach der musikalischen Leitung von Jurowski. Beide Künstler kennen einander von der Komischen Oper in Berlin, sie sind ein bestens eingespieltes Team; dies ist ein spürbarer Gewinn für die Produktion, die ungewohnt intim daherkommt. Denn um die Corona-bedingten Abstände zwischen den Pulten im Orchestergraben einhalten zu können, hat man sich in München für eine reduzierte Fassung von Eberhard Kloke entschieden.

Sie schreibt anstelle der Straussschen Hundertschaft ein Kammerorchester im Stil der «Ariadne auf Naxos» vor, unter anderem mit reizvollem Einsatz des Klaviers. Mit der Fin-de-Siècle-Üppigkeit des Originals hat das zwar wenig zu tun, in der Reduktion aber lässt sich die Entwicklung mancher Motive viel klarer nachvollziehen, ebenso die Herkunft einiger Klangfarben. Da wird plötzlich hörbar, wie viel «Salome» oder «Elektra» eben doch noch durch dieses angeblich klassizistische Werk von 1911 geistert. Manches aufgeregte Treiben im Hause der Feldmarschallin oder des Herrn von Faninal ähnelt da klangfarblich plötzlich dem schattenhaften Gewusel im Palast der Klytämnestra.

Mit Jurowski am Pult setzen die Musiker diesen Reichtum an Details glasklar und wirkungsvoll in Szene. Sie sezieren nicht einfach, sondern erwecken die Musik virtuos zum Leben. Wieder einmal zeigt sich: Die Münchner Truppe zählt zu den stärksten Strauss-Orchestern überhaupt – ein Dirigent kann da durchaus die Zügel lockern und sie einfach gewähren lassen. Das gilt umso mehr bei dieser besonderen Kammerfassung, die aus nahezu jedem Spieler einen Solisten macht.

Jurowski trifft genau diese schwierige Balance zwischen Kontrolle und Laissez-faire. Viel Schmelz (und ein bisschen werktypischer Schmäh) werden spürbar, vor allem aber ein inneres Brennen beim Musizieren. Dass im zweiten Akt manche Einsätze der Geigen nicht ganz präzise kamen, war nicht der Leitung Jurowskis geschuldet, sondern den überzogenen Abstandsregeln zwischen den Musikern im Graben – in Bayern ist man auch hier besonders streng.

Starke Solisten

Auf künstlerisch sehr viel zielführendere Weise lässt auch die Regie von Kosky den Protagonisten viel Raum zur Entfaltung. Wer möchte, kann in seiner Lesart eine gewisse Walter-Felsenstein-Affinität erkennen; trotzdem ist das Ergebnis ein echter Kosky. Ein weiteres Mal verzahnt er hier ein Opernwerk mit Anleihen aus Operette, Slapstick und Schauspiel. In den ersten beiden Aufzügen verzichtet die Bühne von Rufus Didwiszus dennoch nicht auf historisierende Elemente, was eine Brücke zur opulenten Schenk-Inszenierung schlägt.

Im zweiten Akt rollt sogar eine silberne Pferdekutsche auf die Szene. Sie soll der Prunkkutsche von Ludwig II. nachempfunden sein. Der Neuschwanstein-Erbauer hatte offensichtlich eine ähnlich ausgeprägte Vorliebe für Plüsch und Kitsch wie Kosky. Im Übrigen aber macht Kosky aus dem «Rosenkavalier» eine Art «Sommernachtstraum»: mit Allegorie-Zitaten in der Ausstattung von Victoria Behr, die Rubens-Gemälden entsprungen scheinen.

Als Liebesbote huscht Cupido stumm durch die Szene, hier allerdings ein alter Mann mit silbernen Flügeln. Schliesslich führt Amor auch einen Kampf gegen die Zeit, dieses «sonderbar’ Ding», wie es in Hofmannsthals Libretto heisst. Folglich fungieren allerlei Uhren als Leitmotiv: Standuhren, Wecker, Kuckucksuhren. Dieses Spiel mit und gegen die Zeit kostet das durchwegs hochkarätige Solistenensemble lustvoll aus.

«Leicht muss man sein – mit leichtem Herz und leichten Händen, halten und nehmen, halten und lassen»: die Marschallin (Marlis Petersen) und ihr junger Geliebter Octavian (Samantha Hankey).

«Leicht muss man sein – mit leichtem Herz und leichten Händen, halten und nehmen, halten und lassen»: die Marschallin (Marlis Petersen) und ihr junger Geliebter Octavian (Samantha Hankey).

Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Das gilt zuvörderst für Marlis Petersen, die ihre erste Marschallin gestaltet, aber ebenso für Samantha Hankey in der titelgebenden Hosenrolle des Octavian. Wie Hankey als Octavian in unterschiedliche Rollen und Geschlechter schlüpft, ist darstellerisch ein ähnliches Feuerwerk wie der an Shakespeares Falstaff-Figur geschulte Ochs von Christoph Fischesser. Mit Katharina Konradi und Johannes Martin Kränzle sind zudem die Sophie und der neureiche Faninal ideal besetzt.

Am Ende hockt der alte Cupido auf einer mächtigen Standuhr und bricht den Stundenzeiger ab. Für Liebende steht die Zeit still. Für die Kultur in Deutschland bis auf weiteres leider auch. Immerhin ist die Produktion bis 23. April abrufbar und soll irgendwann auch wieder vor Publikum gezeigt werden.

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