Opernhaus Zürich: Diese Unterwelt ist bloss ein Hirngespinst

Christoph Marthaler und Anna Viebrock deuten Glucks «Orphée et Euridice» als absurdes Theater. Mehr Sinn stiften bei der Streaming-Premiere die beiden anrührenden Sängerinnen.

Christian Wildhagen
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Rette sie, wer kann: Eurydike (Chiara Skerath) zweifelt, ob sie mit Orpheus aus der Unterwelt fliehen soll.

Rette sie, wer kann: Eurydike (Chiara Skerath) zweifelt, ob sie mit Orpheus aus der Unterwelt fliehen soll.

Monika Rittershaus

Da sitzen wir nun also und streamen. Die Erwartungen sind hochgespannt und niedrig zugleich. Gespannt, weil wir nach wie vor hoffen, dass aus dem so unverhofft auf uns gekommenen Angebot einer telemedialen Teilhabe an künstlerischen Ereignissen doch noch etwas werden könnte – etwas Besseres jedenfalls als ein unbefriedigendes, weil weitgehend atmosphärefreies Surrogat.

Niedrig sind die Erwartungen, weil die kritischen Stimmen einfach nicht verstummen wollen, die den Finger genau hier in die Wunde legen: Daraus könne niemals etwas werden, so unken sie, denn keine noch so raffinierte Kameraführung, kein noch so intelligenter Begleitkommentar und schon gar nicht der sonst strikt vermiedene Entzauberungsblick hinter die Kulissen könne je die Magie ersetzen, die eine «real» – soll heissen: vor Ort und mit Leib und Seele – erlebte Aufführung auf die Besucher ausübe. Der Fehler liege also im System. Aber stimmt das?

Wo bleibt der Service public?

Das Opernhaus Zürich hat sich lange, durchaus heldenhaft, gegen das Verstummen gewehrt, das die Politik mittlerweile fast der gesamten Kulturbranche auferlegt hat. Man hat die anfangs noch vergleichsweise liberalen Regelungen in der Schweiz genutzt, um vor einer stetig abnehmenden Anzahl von Zuschauern zu spielen. Zuletzt durften immerhin noch fünfzig Fachbesucher im Saal anwesend sein – in der stillen Erwartung, dass zumindest diese Multiplikatoren einen lebhaften Eindruck von der besagten Magie des «live» Erlebten vermitteln könnten. Doch inzwischen müssen selbst die Kritiker zu Hause bleiben.

Jetzt sitzen alle Kulturfreunde vereint vor irgendwelchen Bildschirmen und hoffen auf die immer dringender benötigte Erbauung und Erleuchtung. Und ihrer sind viele – die Zahl der Opernhungrigen aus aller Welt übersteigt jede Erwartung: Bei einem Live-Streaming des Grand Théâtre de Genève mit Debussys «Pelléas et Mélisande» gingen unter dem Ansturm die Server in die Knie; mehr als 400 000 Zuschauer sahen die Arte-Übertragung der Opernhaus-Produktion von Verdis «Simon Boccanegra»; über 600 000 das bewegende Antrittskonzert des künftigen Zürcher Generalmusikdirektors Gianandrea Noseda mit dem Brahms-Requiem.

Dies sind «Besucher»-Zahlen, von denen jede Bühne sonst nur träumen kann. Umso beschämender wirkt es da, dass das Schweizer Fernsehen dieses offenkundige Kulturbedürfnis, von dem auch zahllose andere Veranstalter berichten, bisher weitgehend ignoriert. In der Ausnahmesituation stellt sich die Frage nach dem Sinn von Service public tatsächlich noch einmal neu.

Fake-Reality

Bei der jüngsten Premiere am Opernhaus Zürich, Christoph Willibald Glucks «Orphée et Euridice», gab es jedenfalls keinen kooperierenden Fernsehpartner. So blieb nur das kostenlos zugängliche Wiedergabe-Fenster auf der – erfreulich stabilen – Homepage, ergänzt um ein separates Einführungsvideo der Dramaturgie und ein Podcast-Gespräch. Und da auch Projektionsmöglichkeiten via Apple-TV oder Chromecast bei der Erstausstrahlung leider nicht zur Verfügung standen, richtete man sich also in mehr oder weniger liegender Position im Sessel ein, das Tablet in halber Armlänge vor sich fixiert, die Kopfhörer mit «Noise Cancelling»- und Raumklang-Optionen zwecks Ambiance-Verbesserung im empfangsbereiten Ohr.

Und was erlebte man? Eine Art zweite Wirklichkeit, eine Mischung aus klassischer Opernübertragung und surreal anmutendem «Geisterspiel». Der Choreograf John Neumeier hat diesen Geistern, die gemäss einem alten Theateraberglauben im Dunkeln auf der Bühne herumspuken, unlängst sein grossartiges Corona-Stück «Ghost Light» gewidmet. In Zürich gab es mehr Licht, wenn auch nicht immer genug für die Kameralinsen. Die Frage aber blieb: Wie real ist eigentlich das, was wir da sehen? Droht nach den Fake-News nun etwa auch die Fake-Reality?

Offiziell erblickt man beim Live-Streaming exakt jene Vorgänge, die sich zur selben Zeit eins zu eins im Opernhaus abspielen. Ein zur Unzeit fallender Vorhang wäre genauso zu sehen wie eine Verletzung der Abstandsregeln (beides geschieht, zum Glück, nicht). Doch schon der Sound zu den Bildern ist eine Illusion, denn die Philharmonia Zürich spielt unter der energischen Leitung von Stefano Montanari weiterhin aus Sicherheitsgründen im Probenlokal am Kreuzplatz. Orchesterklang und Bühnengesang werden also in Echtzeit abgemischt. Man merkt davon fast nichts, weil hilfreiche Geister wie der Tonmeister Oleg Surgutschow und sein Team seit dem Beginn der Live-Zuspielungen im Herbst beträchtlich an Fingerspitzengefühl gewonnen haben.

Auch auf der Bühne tummeln sich allerhand Geister, sie sind allerdings weder hilfreich noch unsichtbar, sondern Teil der Inszenierung von Christoph Marthaler und seiner Ausstatterin Anna Viebrock. In einem klassischen Viebrock-Bühnenraum – sichtbar verwohnt, von sinnbefreiter Funktionalität und latent bedrohlich in seiner Leere – versuchen die sieben Schauspieler-Geister, unsere allzu linearen Vorstellungen vom Orpheus-Mythos und von der Errettung der Eurydike aus dem Hades ein bisschen milde zu erschüttern. Die Unterwelt ist deshalb auch schon einmal oben und wahrscheinlich ohnehin ein Hirngespinst. Auch Gott Amor – die frech-naive Alice Duport-Percier – wirkte bei dem verordneten lieto fine schon göttlicher.

Da fiebert man mit

Man kennt dieses sanfte Spiel mit der Absurdität menschlichen Handelns und Fühlens aus Dutzenden Marthaler-Inszenierungen. Hier bleibt es auf mehr oder weniger irritierende Einzelaktionen beschränkt, nicht zuletzt deshalb, weil Viebrocks sonst so reichlich Atmosphäre schaffender Raum im Stream eben doch nicht zur selben, das Auge bannenden Wirkung kommt. Auch wäre ein wenig heitere Sinnstiftung der derzeitigen Situation womöglich angemessener als die längst zum Kunstklischee erstarrte Quintessenz «Ich weiss, dass ich nichts sicher weiss».

So muss die Musik wieder einmal Sinn stiften, und den beiden Protagonistinnen dabei zuzuhören, ist eine Freude. Neben der selbstbewussten Eurydike von Chiara Skerath sorgt dafür vor allem der Orpheus von Nadezhda Karyazina (in der gespielten französischen Bearbeitung von Hector Berlioz ist der Sänger mit der Leier eine androgyne Hosenrolle). Karyazina bildet mit ihrem üppig timbrierten und doch fein fokussierten Mezzosopran das gesamte Gefühlsspektrum zwischen Euphorie, Verzagen und Verzweiflung ab. Da fiebert man unweigerlich mit, auch im Stream.

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Die Aufführung ist noch bis 5. April als Video-on-Demand abrufbar.

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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