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Roberto Alagna (Lohengrin) und Vida Miknevičiūtė (Elsa von Brabant). Foto: Monika Rittershaus.
Roberto Alagna (Lohengrin) und Vida Miknevičiūtė (Elsa von Brabant). Foto: Monika Rittershaus.
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Separatvorstellung – „Lohengrin“ an der Berliner Staatsoper Unter den Linden

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„Einsam in trüben Tagen“, so erzählt Elsa vor Gericht, habe sie im Gebet die Eingabe gehabt, dass ihr ein glänzender, reiner Ritter erscheine; diesen wolle sie zum Streiter für sich wählen – heute würde man sagen: als Anwalt für ihren Prozess. Die Geschichte vom angeblichen Mord Elsas an ihrem Bruder Gottfried, Wagners erste, noch verhalten hintergründige, musikdramatische Auseinandersetzung mit dem Thema Inzest zwischen Geschwistern, Tabu und Trauma, schien der richtige Stoff zu sein für den Regisseur Calixto Bieto, der in seinen früheren szenischen Arbeiten gern eigene kindliche Erfahrungen und Traumata zu verarbeiten pflegte. Doch wenig Vergleichbares bot sein Regiedebüt an der Staatsoper Unter den Linden – als eine einsame Premiere in trüben Tagen.

Mit noch weniger Publikum als die berühmten Separatvorstellungen König Ludwigs II. entsprach die (abgesehen von den Kameraleuten im Auditorium) geschlossene Aufführung mehr einer Bühnen-Komplettprobe als einer echten Premiere. Die zeitversetzte weltweite TV-Übertragung ist zwar (nach „Simone Boccanegra“ aus Zürich) keine Novität, aber doch ein Unicum per se. Denn wenn schon als eine zu nachtschlafener Zeit – zwischen 22:30 und 02:00 Uhr – ausgestrahlte Aufzeichnung, dann hätte wohl der Zusammenschnitt mehrerer Durchläufe ein insgesamt besseres, vielleicht sogar fehlerfreies Ergebnis zu erzielen vermocht; das aber wäre dann so etwas wie eine Studioproduktion. Die nächsten Aufführungstermine sind veröffentlicht, finden aber aufgrund des Lockdowns sämtlich nicht statt. (Und zumindest heute hieß es heute, beim Versuch diese „Lohengrin“-Produktion in der ARTE Mediathek auf Details zu überprüfen: „Es tut und leid, aber die von Ihnen gesuchte Seite existiert nicht mehr.“)

Das Versprechen der Dramaturgie der Staatsoper, Calixto Bieito werde die Oper in die aktuelle Gegenwart mit ihren brennenden Themen rücken, wurde noch forciert durch einen Trailer bei ARTE, in welchem Lohengrin mit Mund-Nasenschutz voll aussingt. In der Premiere – als nächtlich versetztes Life-Streaming – tragen alle Beteiligten einen Mund-Nasenschutz, aber nur bei der Applaus-Ordnung; in die gespenstische Stille eines Verneigens ohne Klatschen kreischt die Stimme der Inspizientin mit ihren Anweisungen, bis dann doch die Mitglieder des Staatsopern-Chores sich erbarmen und den Soli und Vorständen (und wohl auch sich selbst) applaudieren.

Inszenierung

Regisseur Calixto Bieito hat die Handlung in die Gegenwart verlagert. In einem nüchternen Bühnenraum von Rebecca Ringst, mit hoher verschiebbarer Tribüne auf der Drehscheibe und Leuchtröhren-Leisten sowie zahlreichen Schreibtischen, herrscht die Angst und es segeln die Flugblätter. In dieser Bürolandschaft erleben die Menschen in unterschiedlicher Alltagskleidung, der König in Anzug und Mantel (Kostüme: Ingo Krügler) und Elsa mit einem mitgeführten Käfig-Gefängnis, Lohengrins Ankunft als heftige Umweltkatastrophe. Der Gralsritter ist ein weltferner Träumer im weißen Anzug; er bringt einen Origami-Schwan mit, den er auf dem Souffleurkasten platziert. Der Ring zum Duell wird durch rollbare Bürostühle gebildet, doch die Auseinandersetzung erfolgt ohne Waffen, nur gedanklich. Der Heerrufer in grell-blauem Anzug mit gelber Fliege, durch unkontrolliert exaltierte Bewegungen als ein Hanswurst eingeführt, schminkt sich beim Königsgebet zum Clown, und anschließend, wie auch die Gesellschaft in Brabant, die Hände blutig. Von „Mut“, „Hoffnung“ und „Freude“ ist das Finale durch derartig beschriebene Transparente erfüllt. Elsa hat auf den Rücken von Lohengrins Jackett das Wort „Liebe“ gekritzelt und der König lässt eine gläserne Wahlurne fallen, die auf dem Boden zerbirst.

Sind es im ersten Aufzug Modellautos (vielleicht der Prototyp eines von Konzern-Chef Telramund entwickelten Wagens?), mit denen die Herren und Damen der Gesellschaft und insbesondere Telramunds Frau Ortrud agieren, so sind es im zweiten Aufzug zahllose, partiell zertrümmerte Kinderpuppen beim Spiel zwischen Ortrud und Telramund, die letzterer schließlich einsackt, nachdem Ortrud eine Babypuppe auch zur Brust geführt hat. Im Interview sprach Bieito vom unerfüllten Kinderwunsch dieses Paares.

Weitere Requisiten des Spiels bilden Elsas wolkenartiger, überdimensionierter Brautschleier sowie eine fünfstöckige, sich drehende Hochzeitstorte, bestückt mit Brautpaar und drei Kindern. Diese ist ein Hochzeitsgeschenk des Heerrufers, der sich nun abschminkt, während anstelle des Zuges zum Münster sich die Mitglieder des Chores ihre Gesichter weiß schminken, mit starken Augenbrauen und roten Mündern um dann individuell wie Clowns zu zappeln.

Ortrud tritt nach dem Tete-a-Tete mit Elsa in derangierter gelber Bluse und mit einem halben Hitler-Bärtchen auf, welches einem späteren Video zufolge auch als schwarze Spuren von Nasenbluten gedeutet werden kann. Elsa nascht von der Hochzeitstorte, und auch die Brautjungfern tun sich an ihren Marzipan-Blumensträußen gütlich. Aufgrund von Ortruds Affront legt Elsa den (nun kleineren) Hochzeits-Schleier und ihr Übergewand ab und fährt ihren Käfig als Schutzraum herbei, bis sie am Ende des Aktes Kleid und Schleier wieder anzieht, während Ortrud wütend die Hochzeitstorte zerstört.

Der berühmte Braut-Chor im dritten Akt erklingt aus dem Off, während auf dem Frontalhänger schnelle Schnitte von Schwänen, Vampiren und Paulchen Panther (wohl als ein Albtraum von Elsa?) vorbeirauschen. Doch können Sarah Derendingers Videosequenzen vom Betrachter am Bildschirm nicht konsequent verfolgt werden, da Bildregisseur Andreas Morell Naheinstellungen von Instrumentalisten den Vorzug gibt.

Das wiederholt projizierte und animierte Bild „Schwangere und Schwan“ von Joseph Beuys wird nun zu einem veritablen in Schwan in Zeitlupe, der aus dem Unterleib einer lachenden Schwarzen geboren wird.

Eine Rasenlandschaft vor einem breit gestreckten, die geforderten Abstandsregelungen einlösenden Sofa ist der Ort des Brautgemachs. Lohengrin spielt mit einem Lindenblatt, während Elsa Löcher in ihre Strumpfhose reißt und sich trotzig die Stirn blutig schlägt. Telramund – als ein stummer, unbewaffneter Zeuge ihres Bruchs des Frageverbots – passiert die Szene und überlässt Elsa eine mitgeführte, kleine Topf-Pflanze. Der Eindringling bleibt von Lohengrin unversehrt, doch steht eine lange Folge von Pistolenschüssen im Video für seine Tötung. Auch läutet der von Elsa enttäuschte Lohengrin an keiner Glocke – denn es gibt auch keine Dienerinnen, die Elsa helfen könnten und so geht das Brautpaar unverrichteter Dinge diagonal auseinander.

Vermutlich als ein Brechtscher V-Effekt erfolgt der sichtbare Umbau durch Bühnentechniker, dann rollen und werfen die Herren des Chores wieder Bürostühle auf die Szene. Anstelle der von seinen Getreuen herbeigetragenen Leiche Telramunds führt Elsa dessen kleine Grünpflanze mit sich. Der immer stärker unter Parkinsonschen Symptomen leidende und zitternde König geht freiwillig in den Käfig.

Die Gralserzählung stößt auf stummen, teils entsetzten, teils gelangweilten Widerspruch der Herren. Lohengrin, zeigt Heldenbrust und bespielt sein Hemd als Schwan. Bei seinem Gesang „Mein lieber Schwan“ befällt den Herrenchor die Krätze, und Elsa schlägt sich permanent mit beiden Fäusten gegen die Brust. Die versprochenen Gaben für den Heimkehrer Gottfried zieht Lohengrin als Bündel aus dem Souffleurkasten; er reicht dem patschnassen Jüngling seinen Origami-Schwan, den dieser achtlos fallen lässt, um aus dem Bündel das nur für Kinderspiele taugende Schwert zu ergreifen: Luftgefechte und ein (vermutlich zu spät erfolgter, nicht erst nach Musikende intendierter) Zentral-Stich gegen das Publikum – Black-out.

Musikalische Interpretation

Matthias Pintscher, primär bekannt als Komponist, fühlt sich beim kantigen Nachvollzug von Wagners Romantischer Oper merklich besonders wohl beim Vorspiel zum zweiten Aufzug und der nächtlichen Szene des Intriganten-Paares, der Diskussion über die Lüge, als einer Vorahnung der Neuen Musik ohne festen tonalen Bezug. Ansonsten bleibt unter seiner musikalischen Leitung Vieles an der Oberfläche, und es misslingt auch so Manches im Zusammenspiel von Graben und Bühne. Dabei ist es – zumindest in der Tonübertragung der Premiere – kein Manko, dass die Streicherbesetzung, wohl aufgrund der gebotenen Abstände im Graben, merklich kleiner ist als an diesem Haus mit seinem gigantisch besetzten A-Orchester sonst üblich. Aber nicht nur Franz Liszt bei der Uraufführung 1850 in Weimar, auch kleinere Häuser halten es heute noch so: die volle Bläser-Besetzung, während der Streicher-Apparat aus Kosten- und Platzgründen auch nicht größer ausfällt als bei der aktuellen Staatsopern-Produktion. Die Musiker der Staatskapelle geben dabei ihr Bestes.

Und auch die gesangliche Interpretation ist hochwertig. Großartig der von Martin Wright einstudierte Chor der Staatsoper, zumeist aufgrund praktizierter Abstandsregelungen statisch geführt, aber doch mit individuellen Reaktionen, diversen Ticks und psychisch bedingten Fehlleistungen, klanglich kulminierend im brillant ausgeführten Herren-Doppelchor der dritten Szene des zweiten Aufzugs.

René Pape als König Heinrich bringt – nach textlichen und rhythmischen Anfangsschwierigkeiten – eine großartige Leistung. Die für Sonya Yoncheva eingesprungene litauische Sopranistin Vida Miknevičiūtė erweist sich als Glücksfall für die Deutung einer verhärmten, angsterfüllten Elsa, mit runden Piani und einer breiten Palette dramatischer Schattierungen bei sehr guter Textverständlichkeit. Auch Ekaterina Gubanova als Ortrud überzeugt in Darstellung und Stimmgebung, insbesondere in der als ein verzweifeltes lesbisches Liebesduett gedeuteten Szene mit Elsa im zweiten Aufzug, weniger bei ihrem finalen Fluch. Martin Ganter als Telramund bietet mit den gebotenen Schattierungen zwischen machtvollem Impetus, selbstzweiflerischem Groll und Zerknirschung ein – vom Regisseur bewusst als Pendant der Beziehung Macbeth-Lady gewähltes – Psychogramm.

Vermutlich ist es der Aufregung des in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlichen Premieren-Nachmittags zuzuschreiben, dass Adam Kutny als Heerrufer des Königs anfangs in der Höhe merklich Probleme hat; später vermag er bei überzogenem Spiel auch stimmlich durchaus zu gefallen.

Bleibt die Titelpartie, die Roberto Alagna als Idealisten und Träumer mit extrem wenig Bezug zu jeglichem Anderen außer sich selbst gestaltet. Die Partie beherrscht er trefflich und singt das Kernstück, die Gralserzählung, teils halb am Boden liegend, teils auf Knien, bravourös. Allerdings hat er beim Abschiedslied an den Schwan mit enormen Intonations-Problemen zu kämpfen, und dies später erneut, am Anfang der Brautgemach-Szene. Außerdem bleibt er dem Publikum nach der Gralserzählung die dramatischen Passagen der späten Auseinandersetzung mit Elsa und die Prophezeiung gegenüber Heinrich dem Vogler schuldig. Der im „kalten Krieg“ häufig praktizierte Strich ist bedauerlich, um so mehr als Wagners Partitur des „Lohengrin“ an diesem Haus unter Daniel Barenboim musikalisch ungekürzt auf dem Programm stand.

Am Ende gab es keinerlei Widerspruch – aber von wem auch.


  • Weitere angekündigte Aufführungstermine: 19., 22. , 28., 30. 12. 2020, 2., 9., 17., und 24. Januar 2021 sowie 30 Tage in der ARTE Mediathek.

 

 

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