Berlin. Skandalregisseur Calixto Bieito inszenierte Wagner an der Staatsoper. Die Premiere des düsteren Familiendramas lief nachts auf Arte.

Während die Premiere in der Staatsoper Unter den Linden bereits vor leerem Saal stattfand, lief noch der populärere Western-Klassiker „Die glorreichen Sieben“ von 1960 auf Arte. Erst um 22.15 Uhr waren die Opernleute mit ihrer dreieinhalbstündigen Neuinszenierung dran, es war kein Livestream. Vorsorglich wurde der „Lohengrin“ etwas angefeatured.

Der französische Startenor Roberto Alagna versicherte, dass es sich um die Geschichte Jesu Christi handelt, an der man sich in Krisenzeiten festhalten kann. Die litauische Sängerin Vida Miknevičiūtė beschrieb ihre Elsa als naiv, aber mit großem Herzen und machte damit auf Wagners krudes Frauenbild aufmerksam.

Der Skandalregisseur Calixto Bieito hingegen blickte nachdenklich in die Kamera und erzählte etwas von einer seltsamen Familie. Wichtig schien ihm die Mitteilung, dass Elsa erotische Gedanken hatte, während ihr Bruder im Wasser schwamm und ertrank.

In der Besetzung der Weimarer Uraufführung

Während des Vorspiels wird ein Film eingeblendet, in dem ein Junge ertrinkt. Das soll Gottfried, der Erbe von Brabant, sein. Elsa wird kurz darauf im ersten Akt des Brudermords angeklagt. Im Orchestergraben dirigiert Matthias Pintscher ein deutlich reduziertes Wagner-Orchester.

Mit etwas mehr als 40 Musikern greift die Berliner Premiere auf die Besetzung der Weimarer Uraufführung von 1850 zurück. Und wenn man etwas über das Pandemie-Kulturdesaster retten sollte, dann die Hörerfahrung dieser durchsichtigen, weniger schwülstigen Fassung.

Die Staatskapelle spielt unter Pintschers Leitung hochmotiviert, konzentriert, tanzt beinahe in schlanker Beschwingtheit durch die Partitur und erschafft zwischendurch überraschende Stimmungen. Was die Sänger auf wunderbare Weise mitzieht.

Die Opernhandlung spielt in einer Justizvollzugsanstalt

Die Ernüchterung findet im Bühnenbild statt. Es soll ein Gerichtstag in Stadelheim sein, war vorab aus der Staatsoper zu hören. Die Justizvollzugsanstalt hat ihre Geschichte, dort wurden Mitglieder der Weißen Rose von den Nazis ermordet, erhängte sich RAF-Terroristin Ingrid Schubert 1977 und saß zuletzt das NSU-Mitglied Beate Zschäpe in U-Haft.

Was auch immer Bieito an Demokratie-Anspielungen vorschwebte, sie erschließen sich dem Zuschauer nicht. Stattdessen wird einem wieder deutlich, dass Opernhelden in Anzügen immer kleiner gemacht werden. Aber auf den Opernbühnen hat es sich längst durchgesetzt, den verklärenden Rückblick von Komponisten ins Mittelalter gnadenlos in die Gegenwart zu verlegen.

Die Gerichtsszene auf Arte erinnert eher an ein TV-Event von Ferdinand von Schirach, wo der Fall über die Darsteller erzählt wird. Dann springt die Kamera von einem charismatischen Schauspielergesicht zum nächsten, aber bei „Lohengrin“ sind es zumeist nur offene Sängermünder. Andreas Morells Fernsehregie misstraut der Oper als Gesamtkunstwerk. Dazu gehört auch die Wahrnehmung der Bühnentotale.

Lohengrin ist ein Drückeberger

Der Zuschauer im Saal lässt normalerweise den Blick schweifen vom Sänger auf die Reaktionen der Umstehenden, auf Kostüme, Requisiten oder Details im Bühnenbild. Oder auch auf den schnaufenden Sitznachbarn. Alles geschieht instinktiv, wohingegen beim Fernseh-„Lohengrin“ der Blick streng geführt wird. Es hat etwas Bevormundendes und Ermüdendes.

Noch im ersten Akt schminkt sich der königliche Heerrufer, den Adam Kutny nicht nur stimmlich überaus präsent verkörpert, eine Joker-Filmfratze. Bieito überführt Elsas Traumvision in eine surrealistische Szenerie. Der spanische Regisseur hat sich an Wagners Wunder, der Lichtgestalt des Schwanenritters, gerieben. Sein heimischer Nationalheld Don Quixote ist zwar ein Trottel, aber will die Welt besser machen.

Lohengrin spricht Bieito den Weltverbesserer ab, der ist eher ein Drückeberger. Im weißen Anzug singt sich Roberto Alagna voll leichter Geschmeidigkeit durch sein Rollendebüt. Wie alle großen Tenöre geht er davon aus, dass er auf der Bühne sowieso immer der Held, der angehimmelte oder schmachtende Liebhaber ist. Da kann Bieito denken was er will. Alagna ist ein Pfund dieser Neuproduktion.

Die Bösen haben in Wagners Oper mehr Gewicht

In der großartigen Sängerschar setzt auch Bassist René Pape Maßstäbe, sein König Heinrich kommt charakterstärker und zugleich menschlicher herüber als erwartet. Mezzosopranistin Ekaterina Gubanova ist als intrigante Ortrud eine vollmundige Giftschleuder, darstellerisch zeigt sie Mut zur Hässlichkeit. Sie ist die eigentliche Favoritin. Aber die Bösen haben im „Lohengrin“ mehr Gewicht. Die gute Elsa von Vida Miknevičiūtė ringt mit reichlich Vibrato um die nötige Sopransüße.

Im zweiten Akt um 0,30 Uhr schminkt sich der ganze Chor die Gesichter weiß. Die 74 Mitglieder sind in dieser Inszenierung abstandsgerecht bis in die Hinterbühne hinein aufgestellt. Der Chor zeigt sich stimmlich mächtig, ist aber szenisch weitgehend in das Pandemie-Korsett geschnürt. Schwer zu sagen, ob man das in zwei oder drei Jahren noch so sehen will.

Um 1.51 Uhr wird die Bühne dunkel

Im dritten Akt, um 0.55 Uhr, erklingt das berühmte „Treulich geführt“, wozu anstelle des Brautgemachs eine Filmeinspielung eine barbusige Schwarze zeigt, die sich erregt windet. Irgendwann wird der Schwan zwischen ihren Beinen eingeblendet. Die Darstellung von erotischen Fantasien und Abgründen ist typisch für Bieito.

Die Oper endet in einer geschlossenen Anstalt. Manchmal verheddern sich Regisseure in ihrer eigenen Metaphernverliebtheit. Der weiterziehende Lohengrin drückt dem hereinkommenden jungen Gottfried, dem zukünftigen Herrscher von Brabant, einen Schwan aus Papier in die Hand. Der schaut kurz drauf und lässt ihn achtlos fallen. Warum auch nicht? Er lässt schließlich keine Utopie fallen, sondern nur ein dummes Stück Papier.

Um 1.51 Uhr wird die Bühne dunkel. Man möchte den Sängern zujubeln, dem Dirigenten und den Musiker applaudieren, den Regisseur ausbuhen. Aber die Künstler stehen vor einem leeren, stillen Saal. Man leidet mit ihnen.