Premiere im Opernhaus: Vor der privaten Tragödie muss selbst die Staatsaktion weichen

Die Oper Zürich zeigt Verdis «Simon Boccanegra» unter erschwerten Bedingungen als Live-Premiere auf der Bühne und im Fernsehen.

Thomas Schacher / Christian Wildhagen
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Im Dogenpalst von Genua geht jeder seinen eigenen Geschäften nach. Simon Boccanegra (Christian Gerhaher, Mitte) gerät mit seiner Prinzipientreue zwischen alle Fronten.

Im Dogenpalst von Genua geht jeder seinen eigenen Geschäften nach. Simon Boccanegra (Christian Gerhaher, Mitte) gerät mit seiner Prinzipientreue zwischen alle Fronten.

Monika Rittershaus / Opernhaus Zürich

«Simon Boccanegra» ist ein Juwel unter Verdis Opern. Leider hat sich das noch immer nicht herumgesprochen. Die Gründe sind vielfältig: Im Zentrum steht weniger eine Liebesgeschichte als ein Konflikt zwischen zwei mächtigen Männern. Das Libretto greift Ereignisse in der Republik Genua im 14. Jahrhundert auf und konstruiert daraus eine reichlich verworrene Intrigenhandlung, deren 25 Jahre zurückliegende Hintergründe in einem eigenen Vorspiel beleuchtet werden. Das macht die Sache nicht eben leichter zugänglich. Indes hat die Geschichte vom Dogen Boccanegra, der mit bester Absicht zwischen den verfeindeten Parteien vermitteln will (und vorhersehbar scheitert), eine Aussagekraft, die gerade wieder sehr gegenwärtig wirkt.

Andreas Homoki, der das Stück in Zürich trotz der Pandemie in einer Neuinszenierung auf die Bühne bringt, vermeidet allerdings plumpe Gegenwartsbezüge. Also heisst es hier nicht Republikaner gegen Demokraten in den USA oder Sunniten gegen Schiiten im Irak. Homoki siedelt die Handlung vielmehr vor und nach dem Ersten Weltkrieg an, in einer Zeit also, als «die aristokratischen Eliten vom Bürgertum verdrängt wurden» – wie ehedem im Genua des 14. Jahrhunderts. Dies ist nicht falsch, aber doch ein wenig konstruiert.

Den Übergang von der aristokratischen Zeit in die bürgerliche Epoche zeigt der Ausstatter Christian Schmidt in den Kostümen: Im Vorspiel trägt Boccanegra einen Gehrock, in der Haupthandlung einen Anzug. Der auf einer Drehbühne platzierte Innenraum mit seinen sich ständig öffnenden und schliessenden Türen lässt indes kein Vorher und Nachher erkennen. Sehr sinnfällig wird die Zeitdifferenz dagegen durch die hinzugefügten stummen Rollen von Boccanegras Geliebter, Maria, und ihrem gemeinsamen Töchterchen erfahrbar gemacht. Die Tochter tritt in der Haupthandlung unter dem Namen Amelia als erwachsene Frau wieder auf.

Luisis Abschied

Mit dem deutschen Bariton Christian Gerhaher, der sich nach seinem Einstand mit dem Marquis Posa eine weitere Verdi-Rolle erarbeitet hat, steht als Doge Boccanegra ein erstklassiger Interpret auf der Bühne. Seine modulationsfähige Stimme klingt gleichsam wie ein offenes Buch und macht alle die widerstrebenden Gefühle eindringlich hörbar. Dennoch wirkt Gerhahers Rollendebüt manchmal etwas kantig, um nicht zu sagen: deutsch. Man mag sich dabei an seinen Zürcher Wozzeck erinnern. Einen fabelhaften Eindruck hinterlässt die amerikanische Sängerin Jennifer Rowley. Ausgestattet mit einer eher dunklen Stimme mit grossem Ambitus, verkörpert sie die Amelia nicht als Opfertypus, sondern als eine starke Frau, die, falls nötig, auch einmal die Pistole zieht.

Das Meer spielt eine geheime Hauptrolle im «Simon Boccanegra». Doch in Zürich ist Amelia (Jennifer Rowley) dieser Ausweg ebenso verbaut wie dem Titelhelden.

Das Meer spielt eine geheime Hauptrolle im «Simon Boccanegra». Doch in Zürich ist Amelia (Jennifer Rowley) dieser Ausweg ebenso verbaut wie dem Titelhelden.

Monika Rittershaus / Opernhaus Zürich

Fiesco, der aristokratische Widersacher Boccanegras, findet in Christof Fischesser einen echten Basso profondo, der zu seinem konspirativen Charakter bestens passt. Schwächere Besetzungen sind Otar Jorjikia mit seiner stark forcierten Tenorstimme als Amelias Liebhaber Adorno und Nicholas Brownlee als plebejischer Bösewicht Paolo, der schon in der ersten Konversationsszene schreit, als würde er bereits erschossen.

Der über ein Glasfasernetz und Lautsprecher zugespielte Klang der Philharmonia und des Hauschors mischt sich unter der Leitung von Fabio Luisi recht gut mit dem unverstärkten Gesang der Protagonisten auf der Bühne. Luisi, der seine letzte Zürcher Premiere dirigiert, setzt die Partitur farbig und spannungsgeladen um. Die Corona-bedingte Nichtanwesenheit des Chors bildet indes für die Inszenierung ein Problem: Bei der Ratsszene im ersten Akt bleiben die Sitze der Senatoren leer. Boccanegras Appell zur Versöhnung der verfeindeten Parteien verhallt ungehört.

Zum Glück drückt er nicht ab: Gabriele Adorno (Otar Jorjikia) will den Dogen Boccanegra (Christian Gerhaher) töten.

Zum Glück drückt er nicht ab: Gabriele Adorno (Otar Jorjikia) will den Dogen Boccanegra (Christian Gerhaher) töten.

Monika Rittershaus / Opernhaus Zürich

In der Schlussszene, wo der sterbende Doge zum Zeichen der Versöhnung seine Tochter Amelia mit Adorno vermählt und diesen zu seinem Nachfolger bestimmt, bleibt die Familie unter sich – das Volk ist nur aus dem Off zu hören. Originell und gleichzeitig problematisch erscheint der Schluss: Statt in den Armen Amelias zu sterben, schreitet Boccanegra in den Hintergrund und findet dort seine Geliebte Maria wieder. Damit wird der Zürcher «Simon Boccanegra» vollends zu einem privaten Kammerspiel, dem die Staatsaktion abhandengekommen ist. (tsr.)

Durchs Opernglas

Wer die Zürcher Premiere in der Live-Übertragung via Arte verfolgt, lernt gerade die Fokussierung auf das Kammerspiel in Andreas Homokis Inszenierung schnell schätzen. Anders als das Fachpublikum von nur fünfzig Besuchern, die am zweiten Adventssonntag im Opernhaus anwesend sein durften, sitzt man hier nämlich permanent in der ersten Reihe. Häufig sogar mitten im Geschehen, denn die Bildregie blendet die Theatersituation, also den Bühnenrahmen, über weite Strecken aus. Stattdessen rücken die Kameras den Protagonisten immer wieder auf die Haut. Sie zeigen sie in ihrer emotionalen Vereinzelung und lassen auf diese Weise auch optisch sehr eindringlich die wachsende Verzweiflung spürbar werden angesichts all der ausufernden Intrigen, die am Ende die ersehnte Versöhnung zunichtemachen.

In den Hinterzimmern der Macht: Der Doge Simon Boccanegra (Christian Gerhaher) hegt die besten Absichten, wird aber von seiner privaten Vorgeschichte eingeholt.

In den Hinterzimmern der Macht: Der Doge Simon Boccanegra (Christian Gerhaher) hegt die besten Absichten, wird aber von seiner privaten Vorgeschichte eingeholt.

Monika Rittershaus / Opernhaus Zürich

Besonders bei Christian Gerhaher ist der Vergrösserungsblick durch das imaginäre Opernglas ein Gewinn: Er gestaltet, wie bei ihm üblich, nicht nur jede Phrase feinsinnig aus dem Wort, er begleitet und unterstreicht sie auch mit einer sprechenden Leidensmimik, die ausdrucksstark, doch subtil verinnerlicht zwischen Aufbegehren und Resignation changiert. Die Assoziation an seine Zürcher Darstellung des Wozzeck als Schmerzensmann wird in den zahlreichen Naheinstellungen nachgerade bedrängend greifbar.

Diese Close-ups stehen also eindeutig im Dienste der Regie, die wegen der Abstandsregeln in der Pandemie den Verzicht auf Massenszenen noch weiter treiben muss, als es in Verdis radikaler Partitur ohnehin angelegt ist. Dass die (Chor-)Massen bei der Übertragung – übrigens in guter Klangbalance – nur mehr mächtig aus dem Off revoltieren, regt die visuelle Phantasie sogar an, vielleicht wegen der anderen Sehgewohnheiten im Fernsehen. Der Gegensatz zwischen der privaten und der öffentlichen Tragödie eines Politikers wird dadurch geschärft.

Wo die Bildregie doch einmal die Bühnentotale und im grossen Friedensgebet des ersten Aktes auch den erleuchteten, schütter besetzten Zuschauerraum zeigt, ist die Wirkung umso stärker. Dies geht euch alle an, scheint das zu sagen – egal, auf welchem Wege ihr zuschaut. Als Stream ist die Aufführung noch bis 5. März 2021 abrufbar. (wdh.)

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