Wem es in dieser ohne öffentliche Konzertveranstaltungen doppelt kalten Jahreszeit nach märchenhafter kultureller Wärme gelüstet, der sollte sich im Internet die letzte Produktion der Bayerischen Staatsoper anschauen. In München haben Ingo Metzmacher und Frank Castorf in einer geistreich leuchtenden Inszenierung fast genau 100 Jahre nach der Uraufführung (unter Bruno Walter und auch in München) Walter Braunfels' Die Vögel nach Aristophanes wieder auf die Bühne gebracht. Braunfels (1882-1954) begann 1913 mit der Komposition seines Opus 30,  beendete die Oper (eines von elf Bühnenwerken) aber erst sechs Jahre später, nach Fronteinsatz und Verwundung im Ersten Weltkrieg und der Konversion zum Katholizismus.

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Die Vögel
© Wilfried Hösl

Als Student der Kölner Musikhochschule war mir Braunfels schon damals ein Begriff, war er doch zweimal (1925-1933 und 1947-1950) Rektor dieses Instituts gewesen. Seine Musik ist spätromantisch farbenreich, das Libretto hatte Braunfels selbst nach der antiken Komödie von Aristophanes überarbeitet: Zwei großstädtische Lebemänner Ratefreund und Hoffegut schließen im Reich der Vögel einen Pakt mit deren König Wiedhopf, um eine befestigte Stadt in den Lüften zu bauen und damit den Göttern ihre Macht zu entnehmen. Prometheus warnt die Vögel am Beispiel seines eigenen durch Göttervater Zeus auferlegten Schicksals. Doch die Vögel hören nicht auf ihn und geben sich erst nach einem ihre Stadt zerstörenden göttlichen Gewitter geschlagen.

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Caroline Wettergreen (Nachtigall)
© Wilfried Hösl

Mit zum Aufregendsten in dieser musikalisch und visuell farbenprächtigen Oper gehören die sinnlich schönen Melodien der weiblichen Hauptperson, der Nachtigall. Die Norwegerin Caroline Wettergreen sang diese Rolle in den hohen Registern beeindruckend brillant und einfühlsam. In der präzisen Personenregie Frank Castorfs spielt Workman (und tanzt einmal sogar) so überzeugend und ehrlich, dass sich seine sprechende Mimik und seine gefühlvolle Stimme in all ihren Facetten tief ins Gedächtnis eingräbt. Nur beim von einer Kamera im Nahansicht gefilmten pantomimischen Liebesakt mit der Nachtigall ließ er Federn. Und auch bei Wettergreen war dies der einzige Augenblick an dem ihr schauspielerisches Talent sie ein wenig im Stich lässt.

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Charles Workmann (Hoffegut) und Michael Nagy (Ratefreund)
© Wilfried Hösl

Michael Nagy hat neben Workman als sein Bürgergesell Hoffegut einen schweren Stand. Er spielte den Bösewicht und Aufstachler der Vögel schauspielerisch überzeugend, war in den ersten Szenen aber stimmlich weniger präsent als sein einfühlsamerer Kumpan. Günter Papendell als König der Vögel zeigte überzeugend die Veränderung seines Charakters. Mit seiner herrlich frischen Baritonstimme beginnt er als betrunkener Lebensgenießer, der sich die ehrgeizigen Pläne der Erdenbürger aufschwatzen lässt. Im Verlauf der Oper geht ihm das Schicksal seines Vogelvolkes aber mehr und mehr ans Herz und seine Arien gewannen an Tiefe. Erst im zweiten Akt halten die Götter ihren Einzug und haben mit Wolfgang Koch als Prometheus einen fulminanten Auftritt. Mit seiner wuchtigen Gestalt und ebensolcher Stimme ist er das perfekte Sinnbild der Himmelslenker.

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Die Vögel
© Wilfried Hösl

Die live gefilmten Kamerabilder werden auf eine Satellitenschüssel projiziert, die hoch oben auf der in drei Ebenen aufgebauten Drehbühne von Aleksandr Denic kreist. Seine Requisiten lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: ein rostiger Container auf Rädern, Bretterverschläge, ein brennender Ölkanister, Neonschriftzüge und ein überlebensgroßes Plakat von Alfred Hitchcock mit Vögeln auf der Schulter. In diesem sich ständig verändernden Panoptikum menschlicher Ängste rennen, tanzen und gestikulieren die grellgeschminkten Sängerinnen und Sänger in aufreizenden Fantasiekostümen (Adriana Braja Peretzki). An der Seite dieses visuellen Feuerwerks kommt Braunfels aufwühlende Musik trotz der coronabedingten reduzierten Orchesterbesetzung ausgezeichnet zur Geltung. Metzmacher dirigierte ruhig und emphatisch und unterstützte die Sänger, wo er konnte. Als liebevoll aufmerksamer Unterstützer von Musikwerken jenseits des klassischen Mainstream klang Braunfels beinah vergessene Musik bei ihm eindringlich und gewichtig.

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Günter Papendell (Wiedhopf) und Michael Nagy (Ratefreund)
© Wilfried Hösl

Castorfs Inszenierung ist dank eines vielköpfigen Kamerateams ausgezeichnet eingefangen. Die Aufnahmeregie spielt ingeniös mit Castorfs für die Bühnenleinwand gefilmten Nahansicht der Sänger, sodass einzelne Sänger während ihrer Arien doppelt im Bild erscheinen. Das macht neben der HD-Qualität der Tonspur das eindimensionale Erleben dieser Oper zu einem befriedigenden Kunsterlebnis.


Die Vorstellung wurde vom Stream der Bayerischen Staatsoper rezensiert.

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