Mit Strauss' Die Frau ohne Schatten wollte das Staatstheater Nürnberg die Saison 2020/21 eigentlich eröffnen. Die Unsicherheit über die Corona-Beschränkungen führten, wie auch anderswo, zu einer vorsichtigeren Programmplanung mit einer reduzierten Zahl von Musikern. Eine Frau steht wiederum im Mittelpunkt des Opernstoffs: am Tag ihrer Hochzeit wird Euridice durch einen Schlangenbiss in das Schattenreich der Unterwelt entführt. Ihrem Bräutigam gelingt es, über alle Hindernisse hinweg in die Unterwelt vorzudringen. Orfeos Deal mit dem Herrscher Pluto dort erlaubt, Euridice in die Welt der Lebenden mitzunehmen – unter der fast unmenschlichen Bedingung, sie auf dem Weg nicht anzuschauen.

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Martin Platz (Orfeo) und Julia Grüter (Euridice)
© Ludwig Olah

L'Orfeo war nicht die früheste Oper überhaupt, Claudio Monteverdis Fassung ist aber sicher die beste der ersten Opernwerke der italienischen Renaissance, die polyphone Madrigalkunst mit dramatischen Rezitativen und orchestralen Zwischenspielen mischt, um Tragödien menschlicher Leidenschaften auszudrücken. Dabei scheint der Inhalt der griechischen Mythologie damals ein Modestoff an den herzöglichen Höfen in Norditalien gewesen zu sein. In Florenz hatte 1600 Jacopo Peri seine Euridice aufgeführt, dort folgte auch die gleichnamige Favola dramatica von Giulio Caccini. Noch als Hofkomponist in Mantua brachte 1607 Monteverdi seinen L'Orfeo heraus, und sicher begründet die herausragende Vielfalt der musikalischen und dramaturgischen Anweisungen seine Sonderstellung. Notwendige Anpassungen an den modernen Opernbetrieb führten zu Werkbearbeitungen, so Paul Hindemith (1954) oder Bruno Maderna (1967); auch eine fesselnde moderne Version (Siegfried Matthus) von Monteverdis Ulisse hatte die Nürnberger Oper bereits 1979 im Spielplan.

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Emily Newton (La Speranza)
© Ludwig Olah

Mit festlichen Fanfaren aus dem Rund der Ränge begann die Oper. Joana Mallwitz hatte ihre Staatsphilharmonie in Orchestergraben und Logen verteilt, nahm wie eine Spielmacherin die Bälle aus den verschiedenen Richtungen auf, spielte sie weiter in die Ensembles alter wie neuer Instrumente und überraschte die Zuhörer durch einen üppigen Surround-Sound. Mit energiegeladenen Armsignalen im Tutti sowie dezent und zuverlässig am Cembalo die Solisten mit Augen-Blicken leitend: wer Mallwitz bisher nur im romantischen Repertoire erlebt hatte, konnte nun ihr ebenso leidenschaftliches Faible für historisch informierte Musizierpraxis in zudem moderner Gestaltung entdecken. Zusammen mit Frank Löhr, den sie als Professor für Chor- und Ensembleleitung der Musikhochschule aus Hannover kennt, hatte sie eine lebendige und klanglich opulente Orchesterfassung erstellt, in der sich die Nürnberger Instrumentalsolisten, nach früheren Projekten mit alter Musik vertraut, hervorragend zusammenfanden.

Staatsintendant Jens-Daniel Herzog hatte die Inszenierung vorgenommen, die antike Legende des Sängers Orfeo in eine Story zeitgenössischer Konsumlust und überschwänglicher Lebensfreude junger Menschen umgedeutet. Kein Leben ohne Smartphone, mit permanenten Selfie-Videos werden Freud und Leid live und publik, sind auf der sparsam ausgestatteten Bühne (Mathis Neidhardt) auf einer beweglichen dreiteiligen LED-Wand in detailreicher Fokussierung oder plakativer Vergrößerung schonungslos mitzuerleben (Videotechnik Stefan Bischoff).

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Martin Platz (Orfeo) und Andromahi Raptis (Eco)
© Ludwig Olah

Und damit sind wir mitten im Spiel, das La Musica in ihrem Prolog einleitet und dabei die wundersame Wirkung der Musik auf die Gemüter der Menschen preist. Eine beseelte Interpretin dieser Allegorie war Andromahi Raptis, die sehr sanft und doch beherrschend mit zauberhaftem Sopran für die ersten Gänsehaut-Momente des Abends sorgte. Nach schnellem Schnitt werden die Zuschauer Zeugen der ausgelassenen Vermählungsparty von Orfeo und Euridice, zu der eine üppig gedeckte Hochzeits-Tafel aus dem Kellergewölbe nach oben schwebt, wie es in prunkvollen Königsschlössern heute noch vorgeführt wird. Social Media Posts wechseln zu kurzen Filmsequenzen des Liebespaars im Motorboot mit Schwanenhals, virtuelle Realität und Bühnenhandlung verschwimmen, überschlagen sich geradezu. Binnen Sekunden dann der emotionale Absturz aus dem rauschenden Event: Videosequenzen von Euridices Transport im Rettungswagen und in der Intensivstation. Vergebliche Hilfe, der Schlangenbiss war tödlich für sie. Almerija Delic brachte als Botin die volle Wucht des Schicksalsschlags auf die Bühne, in sterilem OP-Schutzkittel, mit ergreifendem Bericht der dramatischen Minuten: die Ärzte wollten Euridice „mit Luft und Liedern ins Leben zurückholen“, aber sie schlug nur einmal die Augen auf und rief nach Orfeo.

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Wonyong Kang (Fährmann) und Martin Platz (Orfeo)
© Ludwig Olah

Ab nun steht Orfeo um Mittelpunkt: sein Glaube, dass die Überzeugungskraft seines Gesangs die Macht des Schicksals (und damit der Götter) wenden kann, begleitet ihn auf dem Weg in die Unterwelt. Martin Platz hinterlässt in der Rolle des Orfeo den alles überragenden Eindruck des Abends: vom leichtlebigen Erfolgssänger zum leidgeprüften Mann, der an die Chance der selbst gestellten Mission glaubt. Gleichermaßen imponiert sein flexibler und schlanker Tenor, der sein Seelenbeben versunken mit wunderbaren Verzierungen anreicherte, der auch mutig und entschlossen agieren kann. Die Bilder werden ruhiger, lange Kamerafahrten überfliegen brennende Ölfelder und finstere Staubwolken von gewaltigen Explosionen. In der Unterwelt, bei Monteverdi nicht Hölle, sondern ersehnter Ort heimatloser Seelen, bietet das Götterpaar Proserpina und Pluto den Deal an, Euridice mitzunehmen ohne sie dabei anzusehen: ein einziger Blick verdamme sie auf ewig. Nicolai Karnolsky und Almerija Delic führen lustvoll dieses liebesmüde Ehepaar vor; sie sind ebenso Teil des elfköpfigen, immer wieder kommentierenden Mini-Chores, aus dem szenenweise weitere exzellente Soli in glutvoll hinreißender Strahlkraft heraustreten: Emily Newton, Wonyong Kang und Hans Kittelmann.

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Almerija Delic (Proserpina)
© Ludwig Olah

Dass der Weg zurück zum Scheitern verurteilt ist, ist bekannt – das Bild der virtuellen Euridice (innig gestaltend Julia Grüter) beim Schreiten hinter dem durch Lärm verunsicherten Orfeo gehört zu den nachdrücklichsten Szenen der Inszenierung: wiederum Gänsehaut pur, die mit Collage-artigen Klangflächen und disharmonischer Assoziationen an die Schönberg-Schule noch verstärkt wird. Überwältigend!

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