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Monteverdis „L‘Orfeo“ in Nürnberg: Zurück auf Los

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Aus einer heutigen Hochzeitsgesellschaft heraus entwickelt sich das Bühnengeschehen, das teilweise empfindlich an Videoritis krankt. Hier eine Szene mit Orfeo (Martin Platz) und Euridice (Julia Grüter).
Aus einer heutigen Hochzeitsgesellschaft heraus entwickelt sich das Bühnengeschehen, das teilweise empfindlich an Videoritis krankt. Hier eine Szene mit Orfeo (Martin Platz) und Euridice (Julia Grüter). © Foto: Ludwig Olah

Lieber eine aufregende Neufassung als Spezialisten hinterherhecheln: Joana Mallwitz dirigiert in Nürnberg „L‘Orfeo“.

Nürnberg - Man wird ja wohl noch optimistisch sein dürfen. Auch wenn der antike Orpheus-Mythos mal schlecht (Furien zerreißen den Titelhelden), mal recht ausgeht (der Mann wird von Vater Apollo in die Unsterblichkeit erhoben): Jede Version erzählt von der Macht der Musik. Stärker als die menschliche Unzulänglichkeit ist sie, durchsetzungsfähiger, unvergänglich, ewig. Das Licht im Tunnel. Ein Trost, gerade jetzt.

„Orpheus“ ist das Stück der Stunde, man schaue sich nur die Spielzeit-Premieren deutscher Opernhäuser an. Ob in der Vertonung Christoph Willibald Glucks wie ab kommendem Samstag in Augsburg oder in der Claudio Monteverdis, mit der das Staatstheater Nürnberg gerade den Reset-Knopf gedrückt hat, so formuliert es der regieführende Intendant Jens-Daniel Herzog. „L’Orfeo“, uraufgeführt 1607, ist die erste repertoiretaugliche Oper der Geschichte. Alles zurück auf Los also?

Hören und Staunen in der Premiere

Das ist in Bayerns zweitgrößtem Haus nur ein Teil der Wahrheit. Monteverdi hat, anders als bei seinen sonst erhaltenen Opern, eine instrumentierte Partitur hinterlassen. Doch dafür braucht es Experten. Und statt den Spezialisten mit einer leidlich historisch informierten Aufführung nachzuhecheln, entschieden sich die Nürnberger für eine eigene, aufregende Lösung. Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz hat mit Frank Löhr, Dirigent, Komponist und Professor in Hannover, eine neue Fassung erstellt. Man hört und staunt. Da mischen sich zum Beispiel Xylophon und Harfe zum Monolog der Hoffnung. Eine Klarinette verschafft sich oft geschmeidig Aufmerksamkeit. Zu Orfeos Trauer über die von der Schlange gebissene Euridice glissandieren sich Streicher-Tremoli durch die Tonhöhen. Und je tragischer es wird, desto verbogener die Harmonien bis zur Dissonanz. Einmal driften barocke Tanzrhythmen in den Big-Band-Jazz.

Keine Neufassung ist das, aber eine Herholung ins Heute. Inklusive Pandemie-bedingter Aufstellung: Einige Orchestersolisten in Rang und Logen sorgen für effektvolle Terrassendynamik und ein Rundum-Klanggefühl. Mallwitz hat das nicht nur befeuernd im Griff. Schon die langsam genommenen Zwischenspiele gleich zu Anfang signalisieren: Hier ist etwas passiert, hier muss sich die Musik erst finden, sich vortasten in die Realität. Der Abend huldigt nicht (nur) Monteverdis paradiesischer Ästhetik. Fragezeichen klingen mit. Einmal wird es auch aggressiv, im großen Monolog, mit dem Orfeo den Unterwelt-Fährmann Caronte besänftigt. Wo andere Sänger sich versonnen in Schönheit suhlen, singt Martin Platz mit Vehemenz und klarer Kante in den Verzierungen. Das tönt existenziell, nicht nur hier, auch in anderen Soli. Fast das ganze Nürnberger Ensemble inklusive Opernstudio ist beschäftigt. Alle machen ihre ungewohnte Aufgabe großartig, an der Spitze Almerija Delic als raumgreifend ausdrucksvolle Proserpina und Botin, Julia Grüter als Euridice und Hans Kittelmann als singschauspielernder Hirt und ätzend cooler Apollo.

Regie krankt an zu vielen Videos

Während der musikalischen Fraktion der Brückenschlag glückt, die Versöhnung der kompositorischen Zeitalter, fällt die Inszenierung dahinter zurück. Regisseur Jens-Daniel Herzog, Ausstatter Mathis Neidhardt und Stefan Bischoff (Film) entwickeln alles aus einer heutigen Hochzeitsgesellschaft. Schnell stecken sie in der Realitätsfalle. Auf der Leinwand sieht man das sternenfunkelnde All, aber auch BRK-Rettungswagen und OP. Am Ende erhält Orfeo einen Handy-Anruf von Papa Apollo.

Manches wird live abgefilmt, vergrößert und vergröbert. Überhaupt krankt die Aufführung ganz empfindlich an Videoritis. Surreale, soghafte Szenen gibt es schon auch. Den Auftritt Carontes in schwefelgelb verseuchter Einöde etwa oder Orfeos Konfrontation mit dem schwarz bemantelten Geisterchor. Es scheint trotzdem, als ob die Regie dem puren, singenden, sich (ent-)äußernden Menschen nicht ganz vertraut. Für Monteverdi war dies immerhin Motivation, sich überhaupt an den Schreibtisch zu setzen.

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