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DIE WALKÜRE, Regie: Stefan Herheim, Premiere: 27.9.2020, Foto: © Bernd Uhlig
DIE WALKÜRE, Regie: Stefan Herheim, Premiere: 27.9.2020, Foto: © Bernd Uhlig
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Walküren-Hügel auf dem Walküren-Flügel – Wagners „Walküre“ an der Deutschen Oper Berlin

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Hauptproblem dieses Premierenabends sind kurioserweise weniger die freien Plätze zwischen den Besucher*innen mit Mund-Nasenschutz während der gesamten Aufführung, als die Tatsache, dass der neue „Ring“-Zyklus in der Inszenierung von Stefan Herheim in seiner Ikonographie der Tetralogie kontinuierlich aufbaut. Nachdem jedoch „Das Rheingold“ dem Lockdown zum Opfer gefallen war und stattdessen eine Ersatz-Inszenierung auf dem Parkdeck herauskam, fehlt den Betrachter*innen der „Walküre“ das erforderliche Vorwissen dieser spezifischen Lesart.

Nicht nur deshalb bleibt in der dramaturgisch fundierten Erzählweise bei zumeist ausgezeichneter Personenführung manches auf der Strecke und unklar. Kluge Detaillösungen stehen neben Fragwürdigem. Eine erstklassige Sänger-Besetzung und ein gut disponiertes Orchester sorgen für satten Wagner-Sound, von der musikalischen Leitung her jedoch oft uninspiriert und mit verschleppten Tempi.

Auf das Angebot eines Programmhefts wird leider auch bei der jüngsten Premiere verzichtet (zumal der CD-Verkauf im Foyer durchaus erfolgt: – doch wohl mehr aus Ersparnis- als aus Corona-Gründen?); der Besucher wird auf die digitale Version des Programmhefts im Internet verwiesen. Da ist im Interview mit dem Regisseur über dessen Inszenierungsabsicht zu lesen: „Bei uns vollzieht sich dieses Spiel unter Flüchtigen, die keine Heimat mehr haben und diese nun im Mythos suchen.“

Als Götz Friedrich 1975 seine erste Inszenierung von „Tristan und Isolde“ in Scheveningen realisierte, prognostizierte er, es werde sicherlich bald eine Inszenierung geben, die rund um einen Flügel das Dreiecksverhältnis von Wagner, Mathilde und Otto Wesendonck auf die Tristan-Handlung projizieren werde.  Seit dem Schreker-Festival 1980 in Basel ist ein außen wie innen bespielter Konzertflügel in der Opernlandschaft zu einem beliebten Topos geworden, auch für die Handlungen Richard Wagners – etwa als Auftrittsort in Barrie Koskys Inszenierung der „Meistersinger von Nürnberg“ in Bayreuth.

Der bespielbare, sich hebende, in der Luft drehende und im Inneren als Lift für Auf- und Abtritte zu verwendende Konzertflügel ist auch in der neuen Berliner „Walküre“ der zentrale Spielort der drei Akte. Wotan, der zu Beginn des zweiten Aufzugs in Unterhosen aus dem Souffleurkasten kommt, spielt aus dem Wagnerschen Klavierauszug gestisch das Vorspiel (und andere Stellen), später singt auch Fricka aus diesem Auszug, und die Walküren reichen sich ihn für ihre Einsätze weiter oder reißen sich ihre Partien heraus.

Auch hinsichtlich dieser Handlungsweisen fehlt dem Zuschauer möglicherweise der erklärende Vorlauf des Vorabends. Doch drängt sich die alte theologische Fragestellung zwischen Vorbestimmung und freiem Willen auf: wie erfüllt Wotan das Gesetz, dem auch der Gott – gemäß Vorgabe des Werkschöpfers – zu folgen verpflichtet ist? Wagners Partitur schränkt somit den freien menschlichen Willen ein, zumal er selbst „das Ende“ der Handlungen vorgezeichnet hat.

Die einschneidenste Eingriff in Herheims Erzählweise ist ein hinzuerfundener Sohn von Sieglinde und Hunding, dessen Anwesenheit in den Zweier- und Dreier Szenen des ersten Aufzuges neue Gewichtsverteilungen schafft. Der behinderte Halbwüchsige ist mit seinem gezückten Messer zunächst der verlängerte Arm seines Vaters Hunding, wird dann aber immer mehr fasziniert von den Helden-Erzählungen Siegmunds und zum befürwortenden Mitwisser der inzestuösen Geschwisterliebe seiner Mutter zu dem Fremden. Dass Sieglinde vor ihrem Liebesakt mit Siegmund dem Sohn die Kehle durchschneidet, erscheint psychologisch schwer nachvollziehbar. (Sein Ableben durch den Vater wäre wohl eher denkbar, zumal auch Hunding ihm mit dem Stiefel brutal ins Kreuz zu treten pflegt.) Doch die Behauptung der Existenz eines stummen, missgebildeten Sohnes von Sieglinde ist allein angesichts von Brünnhildes Aussage, dass „kein Zager“ dem Geschlecht Wotans, also auch dessen Tochter Sieglinde, „je […] entschlagen“ könne, mehr als fraglich. Hundingling (so wird die Rolle des Kleindarstellers Eric Naumann auf dem Programmzettel benannt) bedroht als Untoter im dritten Aufzug seine Mutter.

Wieder einmal, wie häufig bei Herheims Inszenierungen, scheint der Schlussakt in mehrfacher Hinsicht ungelöst. Wie schon in den vorangegangenen beiden Aufzügen beginnt das Geschehen stumm, noch vor Einsatz des Vorspiels. Wie in Wieland Wagners Stuttgarter Inszenierung sind die acht Walküren mit Musikbeginn komplett anwesend. Als sie vom geöffneten Vorhang überrascht werden, schäkern sie miteinander oder haben Amouren mit den Darstellern der sich erst mit Musikeinsatz tot stellenden Helden.

Später übernehmen diese (wiederbelebten) Helden die gefederten Walkürenhelme und Speere der Wotans-Töchter. Doch wenn sie bei Wotans Androhung der Strafe Brünnhildes über die acht Mädel herfallen und sie rektal begatten, so stellt sich die Frage: Sollen die Massenvergewaltigung die Freuden der toten Helden durch die „Wunschmädchen“ symbolisieren – oder sind dies nur die sich verselbständigenden Triebe jener jungen Männer, welche die in der Schlacht gefallenen Helden mimen?
Wiederholt füllt eine Schar von über 30 Flüchtlingen, allesamt mit Koffern, die Bühne. Dies erinnert nicht nur an die Szene der jüdischen Flüchtlinge in Stefan Herheims kongenialer Bayreuther „Parsifal“-Inszenierung, sondern auch an die Zeitgenossen als Voyeure des göttlichen Geschehens auf der Bühne in jener unsäglichen Bayreuther „Ring“-Inszenierung, für die Tankred Dorst verantwortlich zeichnete. Doch im Gegensatz zu dessen Realisierung, nehmen die Menschen hier Anteil am Geschehen: sie umarmen sich selbst, wenn Wotan die Tochter umarmt oder erschrecken, wenn er sie auf den Mund küsst.

Auch sonst zitiert Stefan Herheim gerne sich selbst und Andere, etwa mit dem im Spiel wiederholt erhellten Zuschauerraum, mit einer feuerrot erglühenden Speerspitze oder dem Tribut an Patrice Chéreaus Inszenierung der Todverkündung, mit dem weißen Linnen im Spiel zwischen Brünnhilde mit Siegmund. Und schließlich auch an den Technik-Einsatz in der „Ring“-Inszenierung von El Fura dels Baus, wenn Wotan am Ende an der Spitze eines Kran-Arms über dem Walkürenhügel schwebt.
Erstmals zu erleben ist Brünnhildes Autoerotik, angeheizt durch die Faszination für die Liebe des Wälsungenpaares, während sie ihre Halbgeschwister durch die Schlitze eines verspiegelten Schildes beobachtet.

Für das Bühnenbild zeichnet diesmal der Regisseur selbst – gemeinsam mit Silke Bauer – verantwortlich. Zunächst glaubt der Betrachter auf eine Drehbühne zu blicken, die kreisförmig aus Tausenden von alten Lederkoffern errichtet ist. Der Souffleurkasten, aus dem zu Beginn der Oper ein Wolfshund freigelassen wird, dient auch als flackernde Herdstelle, und später holt Helmwige dort eine Nebelkanone hervor. Kumulierte Koffer-Haufen schweben als Wolken im zweiten und als ein steinernes Gewitter am Ende des dritten Aufzugs über der Szene.

Das seinem Sohn in höchster Not verhießende zauberstark zuckende Schwert Nothung hat Wotan in der Vorgeschichte offenbar durch den schwarz lackierten Flügel (wohl aus Eschenholz, da „in einer Esche Stamm“) gestoßen. Siegmund hat bereits wiederholt versucht, das Schwert dort herauszuziehen, was ihm erst angesichts der Erkenntnis der Identität seiner Braut und Schwester gelingt. Beim Hereinbrechen des Frühlings erhebt sich ein die Bühnenbreite füllendes Tuch, auf dem eine Baumkrone und dann der Mond projiziert werden, der sich schließlich zum Auge eines Wolfes verkleinert.

Tücher sollen wohl bereits seit dem Vorabend des Bühnenfestspiels eine besondere Bewandtnis haben, wie der Regisseur ausführt: „Mit einem Seiden-Taschentuch, das sich vergrößert, werden im ‚Rheingold‘ sowohl der Rhein als auch die Berge suggeriert, unter welchen sich Nibelheim öffnet. Ebenso spielerisch assoziativ entstehen Regenbogen und Weltesche, um welche die Spielenden am Ende des ‚Rheingolds‘ aus ihren Koffern Hundings Haus für den ersten Aufzug der ‚Walküre‘ errichten.“

Auch beim Feuerzauber am Ende der „Walküre“ kommt ein gigantisches Tuch zum Einsatz, das an zehn Stangen händig bewegt wird. Doch das optische Hauptgewicht liegt auf einer Parallelhandlung: Aus dem Flügel-Inneren, in den Brünnhilde versenkt worden war, erhebt sich beim letztmaligen, breiten Erklingen des Siegfried-Themas die gebärende Sieglinde; Mime schneidet mit den Schwertstücken, die er der Mutter entwendet, die Nabelschnur durch; den neugeborenen Siegfried nimmt er Sieglinde weg, worüber sie vor Gram stirbt. Dieser Zwerg Mime hat fatale Ähnlichkeit mit einem Zwerg-Richard-Wagner, nicht nur aufgrund seines Baretts. Letzteres könnte auch auf Wagners Stiefvater Ludwig Geyer verweisen, von dem der Komponist dieses bekanntlich übernommen hat. Näheres werden wir sicherlich im „Siegfried“ erfahren, der noch in dieser Spielzeit als „Ring“-Premiere folgen soll, bevor dann „Das Rheingold“ nachgeschoben wird.

Die zeitenübergreifenden Kostüme, für die Uta Heiseke verantwortlich zeichnet, sind unterschiedlich gut gelungen. In kurzer Unterhose begattet Siegmund auf dem Flügel seine Schwester Sieglinde, die zuvor ihren roten Bademantel abgelegt und damit den ermordeten Sohn zugedeckt hat. Auf Frickas Stirn prangen als Schmuckstück die Widderhörner ihres unsichtbaren Gespanns. Hunding und seine Mannen tragen Jägerkleidung, die Kostüme der Flüchtlinge verweisen aufs 20. Jahrhundert, und Wotan hat über seinem weißen Outfit einen dunklen Mantel und Hut.

Den Großteil des Abends unvorteilhaft gekleidet ist die untersetzte Brünnhilde, nachdem Wotan ihr im zweiten Aufzug zornig Ärmel und Rock ihres historisch orientierten Walkürenkostüms abgerissen hat.

Gesungen wird auf hohem Niveau, auch wenn jeder der Vertreter der Hauptpartien am Premierenabend mindestens ein textliches Black-Out hatte. Homogen und doch mit echt individuellen Leistungen wartet das im Ensemble dennoch nicht immer einige Walküren-Oktett auf (Flurina Stucki, Aile Asszonyi Antonia Ahyoung Kim, Irene Roberts, Ulrike Helzel, Karis Tucker, Nicole Piccolomini und Beth Taylor). Neben dem hauseigenen, souveränen Bassisten Andrew Harris als Hunding, erbrachte ein weiteres Ensemble-Mitglied die rundeste Leistung: Annika Schlicht als Fricka macht vokaliter die Doppelmoral ihrer erotischen Bindung an Wotan deutlich – indem sie jene Ausschreitungen, welche sie als Göttin der Ehe zu untersagen hat, insgeheim genießt.

Insbesondere im Dialog mit seiner Gattin offenbart John Lundgren Wotans Nähe zum Witz und zur Sarkastik des Hans Sachs, und stimmgewaltig erfüllt er den Walvater der Vorsehung. Hingegen wirkte Nina Stemme bei aller dramatischen Schlagkraft als junges Wotanskind Brünnhilde bereits doch merklich gereift.

Das Wälsungenpaar – Lise Davidsen mit gefüllten Piani, hörbar auf dem Weg zur Hochdramatischen und Brandon Javonovich mit nuanciert kraftvollem, nur in der Höhe etwas farblosem Tenor – geizt nicht mit hinzuerfundenen Lust- und Schmerzensschreien.

GMD Donald Runnicles macht sehr lange Generalpausen und badet auch gerne im Klanggeschehen, aber nicht immer im Sinne der Spannungsbögen und dramatischer Stringenz. Das Orchester der Deutschen Oper Berlin, welches ein gutes halbes Jahr lang den Graben hatte meiden müssen, erweist sich darin besser zu Hause als bei der vorangegangenen Premiere auf der Bühne.

Am Ende viel Zuspruch des dezimierten Publikums für die musikalische Seite und obligatorische Buhrufe für das Regieteam.

  • Weitere Vorstellungen: 1., 4., 8., und 11. Oktober 2020.


 

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