Wie fühlt sich das an? Die erste vollständige, ungekürzte, nicht orchestergeschrumpfte Wagner-Oper seit sechs Monaten weltweit? Ein wenig feucht, weil aktweise nur mit Maske durchzustehen, der strengen Berliner Corona-Hygieneregeln wegen.
Frische Luft gab es nur vor der Theatertür. Und sehr großartig war es freilich auch, endlich wieder volle Richard-Dröhnung! Und zudem, da schlägt das Berliner Herz ganz schnell und heiß, ist ein neuer „Ring“-Start an der Deutschen Oper zu vermelden.
38 Jahre hatte Götz Friedrichs legendärer, inzwischen verschrotteter Zeittunnel auf dem Buckel. Da kam es auf ein paar Wochen Corona-Verschiebung und Premieren-Zweitstart mit „Walküre“ nicht an.
Man hat, nur bei diesem Titel leistet man sich das, seit Probenbeginn im August täglich getestet. Die 200.000 Euro Kosten übernimmt ein Labor als Sponsor.
Es gelten in dieser beglückenden Wagner-Enklave für 750 Zuschauer auf der Bühne keine Abstandgebote, im Graben sitzt das komplette Orchester der Deutschen Oper, das hier mit voller Kraft die erste normale Wagner-Vorstellung überhaupt seit sechs Monaten spielt. Wow, wie gut das tut!
Koffer sind so Achtziger
Immerhin gab es ja an der Deutschen Oper, am ursprünglichen „Rheingold“-Premierentag 12. Juni, auch die erste Opernaufführung weltweit während des Corona-Lockdowns mit dem schnell aufgezäumten, dann recht knuffeligen Mini-Ersatzvorabend auf dem Parkdeck. Auch als Lob des hauseigenen Sängerensembles.
Und jetzt sind da statt des mythischen Tunnels auf der Bühne Kofferberge. Ein abgelutschtes Requisit der Regietheater-Achtziger, nur übertroffen von den Gestapo-Ledermänteln?
Leider ja. Denn Stefan Herheim, immer noch so etwas wie der nicht erwachsen werden wollende, mit Menschen und Maschinen spielende Donnerblitzbub der Musiktheater-Inszenatoren, weiß nicht so recht, wofür seine Bühnenbilderfindung (mit Silke Bauer) eigentlich gut sein soll.
Richtig, uns fehlt der Vorspielauftakt, im „Rheingold“ werden die sich gigantoman stapelnden, einstürzenden und gen Himmel schwebenden Reiseutensilien sicher noch etwas motiviert werden. Aber sehr zwingend wirken die Kistenberge, die auf der schlecht ausgeleuchteten Szene nur einen schmalen Spielplatz freilassen, im Verlauf der fünfeinhalb Aufführungsstunden nicht.
Assoziationen an KZ-Asservatenkammern
Sie stoßen übel auf. Denn es sind keine irgendwie abstrakten Koffer als Installation, es sind dunkle, altmodische Behältnisse, die sofort Assoziationen an KZ-Asservatenkammern aufkommen lassen. Und das ausgerechnet bei dem berüchtigten Antisemiten Richard Wagner!
Erklärt wird es nicht, genauso wenig wie die zeitlos scheinenden Statistenflüchtlinge, die immer wieder durchs Bild huschen, sinnfrei beobachtend bei den Protagonisten verharren, als hätte Herheim vor den gefürchtet langen, dialogischen Erzählungen der „Walküre“ die Angst des Inszenator-Torwarts vor dem Wagner-Elfmeter.
Gerade angekommen, schon wieder auf der Flucht, wurzelloses Personal an wechselnden Schauplätzen. Das könnte man über viele Opern sagen, auch über den „Ring“.
Auch Wagner war ein politischer Flüchtling – und ein Geflüchteter vor seinen Gläubigern. Doch Stefan Herheim schmiedet daraus keine zentrale Metapher, genauso wenig wie er sonstige Motivfäden logisch zusammenbindet.
Da gibt es mal wieder Theater auf dem Theater, Probensituation, der Walkürenritt startet im Arbeitslicht. Alle müssen sich erst positionieren, es wird in der Partitur geblättert, diese zerrissen, mit dem zerbrochenen Siegmund-Schwert an Sieglinde weitergeben.
Billige Zaubertricks werden vorgeführt. Der Flügel, bei Wagner schon oft auf der Bühne, wird stumm als bourgeoises Folterinstrument traktiert, mutiert zum Auf- und Abganglift. Er kann schweben.
Feuerzauber, Flüchtlinge, Feinripp
Ein Betttuch wird als Projektionsfläche für Wonnemond, Glühwürmchenidyll und Wolfsauge daraus hervorgezogen. Später wabern die Tücher als billiger Feuerzauber, über dem sich Wotan mit einem wackelnden Schwenkarm bewegt und seine Plastikspeerspitze blinken lässt.
Stefan Herheim parodiert gern die Aufführungsgeschichte, das hat er bereits in seinem Rigaer „Ring“-Versuch einst unternommen, der nicht über das „Rheingold“ hinauskam. Hier sind die Walküren seine Hauptopfer.
Brünnhilde fährt mit einem sich entfaltenden Federhelmkranz und Brustpanzer im Kostüm von anno 1876 aus dem Klavier. Ihre Schwestern werden im dritten Akt von eben noch laschen Helden mit heruntergelassenen Hosen a tergo bestiegen.
Überhaupt die Unterhosen! Neben den Flüchtlingen scheint unschuldig leuchtender Feinripp ein ganz wichtiges Inszenierungsding zu sein. Wotan hat darin seinen ersten Auftritt aus dem Souffleurkasten, auch sein zänkisches Weib Fricka zieht aus dem Zarah-Leander-Pelz blank.
Sieglinde geht als notgeilblondes Gretchen ihrem Siegmund schon lange vor dem erst am Aktschluss wallenden Wälsungenblut an die Wäsche, liegt schließlich auf dem Klavierdeckel und lässt sich vom waghalsig in der Büx balancierenden Tenor besteigen.
Vorher hat sie aber – „ein Schwert verhieß mir der Vater“, es steckt natürlich im Piano – ihrem debilen, wie Gollum wuselnden Sohn mit Hunding die Kehle durchgeschnitten. Die einzig reine Figur im „Ring“, nun also auch eine Mörderin – an einer hinzuerfundenen Figur.
Das Orchester segelt in Mittelwerten
Und als sie, eben war im Klavier die flammengeparkte Tante Brünnhilde entschwunden, zu den letzten Finaltakten nochmals auftaucht, da hat sie einen Richard-Wagner-Gnom (Mime?) zwischen den Beinen, der sie von Baby-Siegfried entbindet.
Das verwirrt und verärgert immer mehr, Stefan Herheim bekommt seine wild wogende Deutungsmachtfantasie in keinen kohärenten Erzählgriff. Er präsentiert Bruchstücke, Rezeptionsfetzen. Wollen wir wirklich wissen, wie das wird?
Zumal auch Generalmusikdirektor Donald Runnicles als routinierter Wagner-Langstreckenläufer einen Akt braucht, bis er sein lange nicht benutztes Instrumentarium im Griff hat. Das bolzt und holzt, irgendwann singt und swingt es auch wieder, aber das dauert. Alles segelt in Mittelwerten, lullt ein, sediert, aber bewegt und erregt nicht.
Wir halten uns an die Sänger. Die beglücken fast durchweg. Mit Nina Stemme (der die unfreiwillige Auszeit gutgetan hat) und Lise Davidsen stehen die regierende und die künftige erste Brünnhilde gemeinsam auf der Bühne.
Die eine hat nach neun strapaziösen Wunschmaid-Jahren immer noch einen guten Triller, eine schöne Attacke und ein gebändigtes Vibrato. Die andere lässt die hohen Töne aus dunklen, fülligen Tiefen wie Granaten emporsteigen.
Brandon Jovanovich kann da als mittelgelagerter Siegmund-Haudegen lässig mit- und durchhalten. Andrew Harris ist ein nobel-schlanker Hunding, Annika Schlicht eine präsente wie präzise, mezzospitz zuhackende Fricka. Während der neutral klingende Wotan von John Lundgren im dritten Akt schwächelt, sich dann aber zum Abschied wieder schön gottvaterwürdig zusammenreißt.
Das waren also nur Flüchtlinge und Feinripp, Koffer und Klamotte. Stefan Herheim bleibt uns freilich eine „Walküre“ schuldig. Ende Januar 2021 folgt, so Covid-19 will, erst einmal „Siegfried“.