Auch böse Götterkinder haben schöne Lieder

Trotz der Pandemie beginnt die Deutsche Oper Berlin einen neuen «Ring»-Zyklus – in prächtiger Besetzung. Stefan Herheims bilderreiche Deutung der «Walküre» sorgt allerdings für Irritation.

Eleonore Büning, Berlin
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«Schwer wiegt mir der Waffen Wucht»: Nina Stemme als Brünnhilde in Stefan Herheims Berliner Neuinszenierung der «Walküre» von Richard Wagner.

«Schwer wiegt mir der Waffen Wucht»: Nina Stemme als Brünnhilde in Stefan Herheims Berliner Neuinszenierung der «Walküre» von Richard Wagner.

Martin Müller / Imago

Schon am ersten Tag – zweiter Aufzug, zweite Szene – hat Wotan keine Lust mehr. Er erklärt seiner Tochter Brünnhilde, das Spiel sei aus: «Nur eines will ich noch: das Ende, das Ende!» Das erste Ende dröhnt im Fortissimo. Das zweite will fast geflüstert sein. Und exakt auf dem Komma dazwischen, in der Mitte des Taktes, hat Richard Wagner eine Generalpause komponiert, mit Fermate.

Donald Runnicles, der Generalmusikdirektor der Deutschen Oper, nimmt die Fermate sehr ernst. Er dehnt die Schrecksekunde derart ins Endgültige aus, dass die unermüdlich kofferschleppenden Statisten, droben auf der Bühne, sich erschrocken umdrehen und hinunterspähen in den Orchestergraben. Im Zuschauerraum geht das Licht an: Bitte sehr, das war’s. Und wir schauen uns um und denken: Grossartig! Wir sind nicht allein! Gibt es jetzt eine Runde Schampus für alle? Wo bleibt der donnernde Applaus?

Salutschuss und Freudenfest

Mit knapp 800 Zuschauern ist das Riesenhaus an der Berliner Bismarckstrasse fast zur Hälfte besetzt. Im Graben wirkt, zum ersten Mal seit März, wieder das volle Orchester – mit seinen fabelhaft klaren, weichen, hohen Holzbläsern, dem schimmernden Blech, den silbernen Streichern und dem düsteren, nachtblauen Orgel-Wumms von Kontrafagott, Tuba, Posaunen und Bass. Ein gutes, gestenstarkes Wagner-Orchester wie dieses live hören zu können, das ist ein kostbares, weil seltenes Geschenk geworden für die Ohren – auch wenn Runnicles die Tempi etwas behäbig angeht und dynamisch auf Reserve fährt. Aber wir sind ja erst am Anfang vom Ende der Götter. Es muss noch Steigerungsmöglichkeiten geben.

Dass diese «Walküre»-Premiere überhaupt stattfinden kann, ungekürzt und in vollem Ornat, ungeachtet steigender Corona-Zahlen, ist einer wagemutigen Entscheidung der Intendanz zu verdanken, ausserdem einem ausgeklügelten Hygienekonzept sowie etlichen privaten Sponsoren, die tägliche Tests für alle Mitwirkenden finanziert haben. Auf die Dauer ist das kein Zustand für das vielköpfige, kostspielige und störanfällige Gesamtkunstwerk Oper. Für den Augenblick aber ist es ein Salutschuss und ein Freudenfest.

Für den Regisseur Stefan Herheim ist es Pech und Glück zugleich. Er hat mit seinem Team, nach detailverspielter Herheim-Art, ein politisch-ikonografisch verhäkeltes Gesamtkonzept für alle vier Teile des neuen «Ring»-Zyklus ersonnen. Da aber das eröffnende «Rheingold», der Pandemie wegen, vom Juni 2020 auf den Juni 2021 verlegt werde, fehlen in der «Walküre» nun ein paar Anschlüsse. Es gibt szenische Zutaten, die nicht hineinzupassen scheinen, Bruchstellen, die sich allenfalls nach Lektüre des Programmbuches erschliessen (was aber pandemiehalber nur daheim am Rechner geschehen kann). Und ein Theaterabend, den man sich erst wortreich erklären lassen muss, der hat sowieso schon verloren.

Eine Welt aus Koffern

Da wäre, zum Beispiel, ein Konzertflügel, das zweitwichtigste Requisit. Er repräsentiert zum einen die Weltesche, denn das Schwert Nothung steckt in ihm fest. Zum andern steht er für die manipulative Macht der Musik. Wotan, Fricka oder Brünnhilde greifen, wenn’s brenzlig wird, gern in die Tasten, zum Götterhauskonzert. Schliesslich kann der Flügel brennen, qualmen und fliegen, wenn es Aufruhr zu illustrieren gilt – dann schraubt er sich selbsttätig in die Höhe. Aus einem Flügel sind schon in vielen Wagner-Inszenierungen alle möglichen Figuren herausgeklettert. Warum nicht auch hier.

«O hehrstes Wunder!»: Brünnhilde (Nina Stemme, links) akkompagniert Sieglinde (Lise Davidsen) am Götterflügel bei der Schlüsselstelle der gesamten «Ring»-Tetralogie – Wotan (John Lundgren) ahnt Böses.

«O hehrstes Wunder!»: Brünnhilde (Nina Stemme, links) akkompagniert Sieglinde (Lise Davidsen) am Götterflügel bei der Schlüsselstelle der gesamten «Ring»-Tetralogie – Wotan (John Lundgren) ahnt Böses.

Martin Müller / Imago

Dann: die pappkoffertragenden Statisten. Männer, Frauen, Kinder. Ihr schmuddelfarbener Mehrschichten-Look weist sie aus als historische Migranten der Vorplastikzeit. Auch die Koffer, federleicht und – wie so oft auf den Bühnen dieser Welt – leer, stammen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. So werden sie hin und her geschleppt, durchs wilde Gebirge, wo Wotan mit Fricka streitet, aber auch über den Walkürenfelsen, wo die toten Helden herumlungern und sich wie Zombies die Zeit vertreiben mit Angrapschen und Fürchtenmachen. Und überall lassen die Migranten ihre Koffer herumstehen, so dass sich das gesamte Einheitsbühnenbild aus Kofferstapeln formiert.

Auch Hundings Hütte, wo Sieglinde aus dem Köfferchen eine kalte Platte für die Männer anrichtet, ist eine aus Stapeln gefügte Grotte. Auf dem Höhepunkt der «Todverkündigung», wenn Siegmund das Herz seiner Stiefschwester Brünnhilde rührt und die beiden sich zusammentun, um ihrerseits, Wotan zum Trotz, ein kleines bisschen die Welt zu retten, fliegen einige der Koffer, wie von Mary Poppins gerufen, aufwärts Richtung Schnürboden, romantische Kofferwölkchen bildend.

Das ist so ein rätselhafter, aber poetischer Opernaugenblick, ganz aus der Musik heraus entwickelt, der keiner Erläuterung bedarf. Ein typischer Herheim-Zaubermoment. Doch sonst sind Koffer wie auch Migranten nichts weiter als stumpf gewordene Bühnensymbole. Wofür? Migration, Heimatlosigkeit – auch Richard Wagner sei oft umgezogen, steht im Programmbuch zu lesen. Ach so.

Richard, hilf! Mime raubt Sieglinde (Lise Davidsen) ihren gerade geborenen Sohn Siegfried. Zur Tarnung trägt der fiese Zwerg ein Wagner-Barett.

Richard, hilf! Mime raubt Sieglinde (Lise Davidsen) ihren gerade geborenen Sohn Siegfried. Zur Tarnung trägt der fiese Zwerg ein Wagner-Barett.

Martin Müller / Imago

«O hehrstes Wunder!»

Immerhin: Die Besetzung ist durchwegs hervorragend. Doch auch unter den Besten der Besten gibt es Abstufungen. Nina Stemme, eine wunderbar sicher strahlende Brünnhilde, singt inzwischen mit etwas zu starkem Wobble. Brandon Jovanovich, der Siegmund, ist ein leicht kehliger, körniger, quicklebendiger Heldentenor. John Lundgren fehlt zum Wotan noch ein Quentchen Wucht, Andrew Harris zum Hunding noch die schwarze Tiefe.

Ein orkanartiges Temperamentsbündel ist die glasklare, idiomatisch perfekt agierende Annika Schlicht, sie verleiht der Partie der zänkischen Fricka ganz eigenes Format, macht sie sympathisch. Überwältigend indes und alle anderen in den Schatten stellend: Lise Davidsen als Sieglinde. Auf diesen Wagner-Sopran, weich wie Seide, glänzend wie Gold, biegsam und federnd wie eine Stahlklinge, haben wir lange gewartet.

Davidsen ist freilich nicht bloss Lichtgestalt an diesem Abend. Herheim hat ihrer Sieglinde hässlichen Nachwuchs angedichtet, einen Hunding-Spross. Eine Art tapsiges Werwolf-Kind – das stört das himmelhochjauchzende Rendez-vous des Wälsungenbluts. Da tötet sie es, medeahaft, mit einem raschen Schnitt durch die Kehle. Auch böse Götterkinder haben schöne Lieder. Die Wiederbegegnung der beiden auf dem Walkürenfelsen, wo das arme Kind nun als Zombie unter den Zombies haust, hindert Sieglinde dennoch nicht, sich fürs «hehrste Wunder» schier zu verströmen.

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