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In der Wotan-Show

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Geisterbeschwörung: Wotan lässt Brünnhilde aus dem Flügel steigen. © Bernd Uhlig

Stefan Herheim verliert sich heillos in den Untiefen des „Rings“, aber die momentan ziemlich einzigartige Premiere von Wagners „Walküre“ ist an der Deutschen Oper Berlin trotzdem ein Ereignis.

Die Sensation eines ambitionierten „Ring“-Auftakts wird hier noch gesteigert durch die aktuelle Lage. Jeder Mensch kann anhand seines Taschenkalenders selbst feststellen, wann er zum letzten Mal eine Oper von Richard Wagner auf der Bühne gesehen hat. Es wird wohl mehr als sechs Monate her sein. Während aber die Met in New York soeben mit der (sicher wohlüberlegten) Ankündigung schockierte, die gesamte Spielzeit 2020/21 ausfallen zu lassen, war an der Deutschen Oper Berlin nun die Premiere der „Walküre“ in Stefan Herheims Interpretation zu erleben.

Ein Unterfangen mit Laborraumcharakter, mehr noch als die Musiktheaterpremieren bei den Salzburger Festspielen. In Berlin wird jetzt – zu Herbstbeginn – versucht, die Ausnahme in der Normalität unterzubringen. Für die Mitwirkenden kündigte Intendant Dietmar Schwarz tägliche Corona-Tests an. Das Publikum, seit diesem Premierenabend noch einmal vergrößert auf fast 800 Menschen, sitzt im aus Salzburg vertrauten Schachbrettmuster. Der Mund-Nase-Schutz muss auch während der Vorstellung selbst getragen werden (das Personal suchte entdeckte Missetäter direkt heim, insgesamt war die Disziplin beachtlich).

Es war ergreifend, einmal wieder einen ernsthaften Applaus-Starkregen zu hören. Später stellte sich heraus, dass eine Maske auch keineswegs am Buhen hindert. Ein ereignisreicher Abend.

Die Deutsche Oper hielt an dieser Stelle an ihrer ursprünglichen Planung fest. „Das Rheingold“, im Sommer in einer improvisierten Parkdeck-Variante angedeutet, ist auf 2021 verschoben, so dass die „Walküre“ jetzt ohne Vorgeschichte dasteht. Herheim gibt im Programmheft-Interview einige Auskünfte; auch so hätte man aber vermutlich begriffen, dass sich Wotan am Anfang des Zweiten Aufzugs in Unterhosen aus dem Souffleusenkasten rappelt, weil er bei Erda zu Besuch war. Hierhin zog es ihn, so Herheim, schon am Ende des „Rheingolds“. Wotan, unstet wie sein Schöpfer.

Symbolisiert werden das Unstete und das schöpferische Moment durch zwei Requisiten, die auf der Bühne bereits derart strapaziert worden sind, dass ihr Einsatz problematisch erscheint. Erstens die einfachen Lederkoffer jener, die (unfreiwillig) lange unterwegs sind. Zweitens der Flügel als Keimzelle professioneller musikalischer Schöpfung.

Die dunkel vollgerumpelte Bühne von Silke Bauer und Herheim besteht sogar ausschließlich aus Koffern. Mit Koffern hat Hunding sein ungemütliches, aber solides Haus gebaut und Wotan sein Walhall, dessen Mauern schon wieder in Auflösung sind. Auch der Bühnenhimmel ist immer wieder kofferverhangen, vor allem aber ist (Pech bei einer immerhin chorlosen Oper) eine sehr große Statisterie unterwegs, Männer, Frauen, Kinder mit ihrem Gepäck, Geflüchtete, wie die Kleidung (Uta Heiseke) nicht nur ahnen lässt. Ist es nicht eine Entgleisung, die reale Situation von Menschen auf der Balkanroute oder sonstwo zur letztlich dekorativ belebenden Staffage zu machen? Herheims Idee, dass sich die Handlung aus dieser Gruppe heraus entwickelt, bleibt in der „Walküre“ Theorie.

Wichtiger ist der Flügel in der Mitte der Koffermauern und -berge. Er dient für Auftritte und Abgänge, dann geht die Klappe auf, aus der gelegentlich, nein, sehr häufig Theaternebel wallt. Der Flügel kann außerdem angehoben werden, was außerordentlich oft passiert. Ein in die Luft erhobener Flügel ist nicht nur logistisch ein Risiko, es ist mehr noch ein geschmackliches, würde doch auch ein Schnulzensänger liebend gerne solche Effekte in seine Show einbauen. Ohne Tasten ist er wie von Geisterhand zu spielen: der hemdsärmelige Wotan, auch die elegante Fricka und eine ironisch (?) walkürenhaft gekleidete Brünnhilde können von hier aus die Dinge in ihrem Sinne lenken: Das sind die Momente, in denen es Herheim am ehesten gelingt, aus der Musik heraus das Geschehen zu entwickeln. Ansonsten ist zwar die Partitur allgegenwärtig, das lustige Herumgeblätter ist aber kaum weniger verbraucht als der Einsatz von Reclamheftchen im Sprechtheater.

Herheim zieht zu allem Überfluss die neckisch-komödiantische Karte, die freilich in jeder halbgaren Wagnerparodie (und davon gibt es verständlicherweise viele) einsetzbar ist. Vor allem die Walküren werden anscheinend auf dem falschen Fuß erwischt, aha, jetzt sollen diese Frauen auf einmal Walküren spielen, sie kichern, sie werfen sich in Pose, greifen sich die Speere, die Brünnhilde aus dem Flügel aufsteigend mitgebracht hat.

Show ist ein wichtiges Stichwort, ein irritierendes. Einerseits erweckt Herheim den Eindruck, jedenfalls die Erwartung, die Tetralogie aus einfachen Mitteln – da sind Leute unterwegs, denken sie sich eine Geschichte aus – zu erschaffen. Ein sehr großes weißes Seidentuch scheint dafür zu stehen, ohne den Vorabend ist es aber tatsächlich bloß ein sehr großes Seidentuch. Andererseits nehmen die Showeffekte im Laufe der Stunden überhand. Sie gipfeln im verunglückten Schlussakt, wo Wotan – man sieht das noch in Reihe 14 sehr gut – seinen Speer anknipst, der daraufhin leuchtet und dampft. Der Feuerzauber selbst: das ausgeleuchtete Seidentuch als zipfelnde Umrahmung, ein schöner, aber betagter Weihnachtsmärchengag. Nachdem die Walküren sich in ihre Rolle gefunden haben, werden die Toten als Zombies – vermutlich von Wotan gesteuert – unruhig und frech. Es kommt mitten im kollektiven Gesang, katastrophale Lächerlichmachung der Musik, zu Vergewaltigungsszenen. Denkt man für einen Moment an die Flüchtlingsgruppe zurück, aus der sich die hinzugefügten Figuren ja speisen, stellt sich die Frage: Was will Stefan Herheim uns damit sagen?

Im Ersten Akt weckt noch eine ganz andere Idee zunächst Interesse. Sieglinde und Hunding haben diesmal ein Kind, das ungeliebt und verwahrlost zwischen den Erwachsenen mit einem Messer hantiert. Warum nicht, allerdings gelingt es nicht, das Kind konsequent in die Handlung einzuarbeiten. Sieglindes Gefühle sind dadurch noch aufwallender, aber letztlich bleibt es beim aufgeregten Gefuchtel mit Waffen. Ein aufgeregtes Fuchteln mit Waffen (Stich- und Schuss- und Schlagwaffen) kennzeichnet den Abend insgesamt. Ja, schrecklich: Das Kind stört das liebende Geschwisterpaar Sieglinde und Siegmund ebenso wie die Inszenierung. In einer weiteren Aufwallung wird Sieglinde ihm die Kehle durchschneiden (als Zombie begegnet es ihr im Dritten Akt wieder). Man traut es dieser Sieglinde zu, trotzdem ist es irre, zudem hat Wagner leider einfach keinen Text dazu geschrieben.

Dabei wird man nicht oft im Leben eine solche Sieglinde erleben, die 33 Jahre alte Lise Davidsen, die erneut mit blühend schöner und verschwenderisch kraftvoller Stimme eine alles andere als scheue oder schicksalsergebene Frau singt und sie auch vehement spielt, ist die auffallendste Figur des Abends. Was soll aus dieser Stimme noch werden, wenn nichts dazwischenkommt? Von immenser Expressivität ebenso die große Nina Stemme als – gelegentlich etwas vorsichtiger ansetzende, aber dann grandiose – Titelheldin, um die herum Herheim leider besonders viel Unruhe stiftet. Eine Umarmung muss reichen, um zu klären, was Wotan und Brünnhilde einander sind.

John Lundgren als Gott, dem am Ende etwas die Reserven ausgehen, und Brandon Jovanovich als Siegmund stehen den Frauen nicht nur an Durchschlagskraft nach, auch an hochdramatischem und zugleich lyrischem Ausdruck – das sind brutale Anforderungen, aber Stemme und Davidsen schaffen das. Andrew Harris lässt Hunding schön sonor klingen und zeigt ihn als stumpfen Totschläger. Dass er ein Kind hat, hatte, bleibt ohne Belang. Annika Schlicht darf sich als makellose Fricka mit herrlicher Tiefe bejubeln lassen.

Das Dirigat von Donald Runnicles ist arg bedächtig, aber mit überzeugenden Akzenten, wenn das Konzept Gesamtkunstwerk gerade im Verhaltenen Deutlichkeit und Dramatik bekommt.

Am Ende also Weihnachtsmärchenfeuer, auch der Flügel, in dem Brünnhilde quasi eingesargt worden ist, schwebt noch einmal, darüber auf einem gut sichtbaren, leicht schwankenden Kran Wotan. Wollte man sich über das Ende der „Walküre“ lustig machen, wäre das fast perfekt. Tatsächlich öffnet sich dann der Flügel ein letztes Mal. Man blickt voraus, wie Sieglinde gebären wird, unterstützt vom abscheulich (lüstern?) herumgrabbelnden Mime mit Wagnermütze. Das ist unterm Strich Mummenschanz statt Psychologie. Geisterbeschwörung statt Interesse an diesen Menschen.

Zweimal lässt Herheim das Saallicht anmachen, unter anderem, als Wotan das Ende beschwört. Sind wir das? Ja? Während alle dasitzen wie Rehe im Licht der Autoscheinwerfer, fällt einem aber wieder Herheims genialer „Parsifal“-Schluss in Bayreuth ein: der Spiegel, der sich so drehte, dass er Publikum und Orchester zeigte, eine erschöpfte, verschwitzte Schar. Man soll – auch Wagner wollte es nicht – am Alten nicht hängen bleiben. Aber dem Fortgang (und Beginn) des „Rings“ sieht man mit Neugier, jedoch auch Sorge entgegen.

Deutsche Oper Berlin: 1., 4., 8., 11. Oktober. www.deutscheoperberlin.de

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