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Orfeo / Euridice

Azione teatrale per musica
Libretto von Ranieri de' Calzabigi
Musik von Christoph Willibald Gluck

in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln

Aufführungsdauer: ca. 1h 20' (keine Pause)

Premiere im Aalto-Theater Essen am 26. September 2020




Theater Essen
(Homepage)
Mythos als innerer Monolog eines Kranken

Von Thomas Molke / Fotos von Matthias Jung

Die Geschichte um den thrakischen Sänger Orpheus, der mit seinem Gesang nicht nur wilde Tiere zu zähmen, sondern auch Pflanzen und Steine zu bewegen vermochte, ist seit den Anfängen der Oper untrennbar mit dieser Gattung verbunden und hat immer wieder Komponisten zu musikalischen Ausgestaltungen des Mythos inspiriert. Die bekanntesten Vertonungen stammen von Claudio Monteverdi, dessen L'Orfeo als die "Urform aller Opern" gilt, von Jacques Offenbach, dessen Orphée aux enfers den Übergang von der Opéra bouffe zur Operette markiert, und natürlich von Christoph Willibald Gluck, dessen Ruf als Opernreformator vor allem auf seinem 1762 in Wien uraufgeführten Werk Orfeo ed Euridice basiert. Mit der Konzentration auf nur drei Solisten verabschiedete sich Gluck von den zahlreichen Verwicklungen der klassischen Opera seria, stellte die Musik ganz in den Dienst des gesungenen Textes und löste einen Opernstreit aus, der die Opernanhänger in zwei Parteien, die Gluckisten und Piccinisten, Anhänger der alten Operntradition, spaltete. Im weiteren Verlauf unterzog Gluck seine Oper mehrfachen Änderungen. 1768 arbeitete er sie für die Hochzeit der Erzherzogin Maria Amalia mit dem spanischen Infanten Herzog Ferdinand von Bourbon-Parma zum dritten Akt einer Festoper unter dem Titel Le feste d'Apollo um, indem er die drei Akte der Wiener Fassung auf sieben Szenen ohne Pause verkürzte und die Partie des Orfeo von einem Altkastraten in einen Soprankastraten transponierte. Fünf Jahre später feierte dann die französische Fassung als Tragédie-opéra Orphée et Eurydice in Paris Premiere, für die Pierre-Louis Moline ein komplett neues Libretto verfasste und die um die für die Pariser Oper obligatorischen Balletteinlagen erweitert wurde. Auf diese Balletteinlagen, die als große Ensembles konzipiert sind, muss natürlich in Zeiten von Corona verzichtet werden. So entscheidet man sich in Essen für eine an einigen Stellen gekürzte Fassung der ursprünglichen "Azione teatrale per musica".

Während in Hagen die kurz vor der Corona-Pandemie herausgekommene Produktion von Glucks Oper wegen des Einsatzes des Chors und des Balletts noch nicht wieder aufgenommen werden kann, ist man in Essen gespannt, wie denn der Chor in diese Inszenierung einbezogen wird. Paul-Georg Dittrich stellt ihn nicht auf die Bühne, sondern lässt ihn nur aus dem Off erklingen, gewissermaßen als Stimmen in Orfeos Kopf. Überhaupt ist Orfeo in Dittrichs Inszenierung die einzige "reale" Figur auf der Bühne. Um die mythologische Geschichte in die heutige Zeit zu übertragen, betrachtet er Orfeo als einen Patienten mit einem Locked-in-Syndrom, einer fast vollständigen Lähmung, die häufig von einem Schlaganfall ausgelöst wird, wobei das Bewusstsein und die geistige Funktion in der Regel nicht beeinträchtigt sind. Dabei sieht man jedoch kein Krankenzimmer auf der Bühne sondern einen abstrakten Raum, mit einem weißen Tuch, das mit dunklen Wolken bemalt ist und teilweise als Projektionsfläche dient. Zu Beginn strahlen grelle Scheinwerfer in den Zuschauersaal und geben nur sporadisch einen Blick auf Orfeo frei, der sich wie ein Gefangener in dieser Umgebung bewegt. Unterbrochen wird die Oper immer wieder von Videoeinspielungen, in denen Ärzte gezeigt werden und wissenschaftliche Erklärungen über das Locked-in-Syndrom abgeben, was den musikalischen Fluss enorm stört und das Publikum immer wieder aus der großartigen Musik herausreißt. Für das Verständnis hätte es gereicht, wenn diese Äußerungen zu Beginn der Oper einmal eingeblendet worden wären, um den Ansatz zu erklären. Danach sind sie überflüssig.

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Orfeo (Bettina Ranch) leidet unter dem Verlust Euridices (in der Videoprojektion: Dale Rhodes und Larissa Machado als Orfeo und Euridice).

Denn auch wenn man nicht jeden einzelnen Regie-Einfall versteht, findet Dittrich im weiteren Verlauf mit den Videoprojektionen von Vincent Stefan sehr eindringliche Bilder, die auch ohne den medizinischen Ansatz nachvollziehbar sind. Da ist zunächst Orfeos Abstieg in die Unterwelt. Dazu wird ein Teil der Vorderbühne hochgefahren und ein surrealer weißer Raum freigelegt, in dem an der Rückwand in unterschiedlicher Höhe Türen angebracht sind. Auf der rechten Seite sitzt die Harfenistin Gabriele Bamberger, die mit gefühlvollem Spiel Orfeos Gang begleitet. Orfeo öffnet die Türen und sieht in Projektionen zwei Menschen in einer Unterwasserlandschaft. Das sollen wohl Orfeo und Euridice sein, die im Video von Dale Rhodes und Larissa Machado, zwei Mitgliedern des Ballett-Ensembles, dargestellt werden. Unter Wasser sind die beiden zunächst auf der Suche und finden dann in wunderbar poetischen Bildern zueinander. Die Projektionen sind nun nicht mehr nur in den Türen zu sehen, sondern breiten sich über die gesamte Rückwand aus. Wenn die Vorderbühne wird heruntergefahren wird, trifft er auf der leeren Bühne nun auf Euridice, die im gleichen Kostüm ein Teil von ihm zu sein scheint. Mit einer ausgeklügelten Lichtregie werfen die beiden zwei Schatten an die Rückwand, die zueinander finden. Als Schatten ergreift Orfeo die Hand seiner Geliebten und versucht sie nun aus dem Dunkel zu führen.

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Orfeo (Bettina Ranch, rechts) will Euridice (Tamara Banješević) aus der Unterwelt befreien.

Nun wird ein aus Leuchtstäben geformtes Häuschen aus dem Schnürboden herabgefahren. Auf dem Boden befindet sich ein Laufband. Orfeo betritt dieses Haus und begibt sich auf das Laufband, was wohl den weiteren Weg zurück in die Realität symbolisieren soll. Doch während Orfeo läuft, beginnt Euridice zu zweifeln. Den Weg in das Haus findet sie nicht. Stattdessen klagt sie den Geliebten an. Es kommt, wie es kommen muss. Orfeo verliert Euridice erneut. Die Rückwand wird angehoben und Orfeo holt eine wehende durchsichtige Folie, mit der er Euridice bedeckt. Ob er sie dadurch aber wirklich wieder verloren hat, lässt Dittrich in seiner Deutung offen. Immerhin bleibt Euridice unter der Folie auf der Bühne. Die beiden sind zwar nicht direkt zusammen, wie es der fröhliche Schlussgesang suggeriert, aber direkt getrennt wie im Mythos sind sie auch nicht. Orfeo hat sich scheinbar aus dem realen Leben verabschiedet und ist nun vollends in seine eigene Welt abgetaucht.

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Getrennt und doch vereint: Orfeo (Bettina Ranch, rechts) und Euridice (Tamara Banješević, links)

Etwas unklar bleibt, welche Rolle Amor in dieser Deutung zukommt. Während Orfeo und Euridice zwei Teile einer Person zu sein scheinen, was durch das gleiche Kostüm angedeutet wird, wird Amor auf der Bühne von Emma Heinrich verkörpert und aus dem Off von Christina Clark gesungen. Heinrich bewegt zum Gesang die Lippen und wirkt in ihrem weißen Kostüm und mit dem weiß geschminkten Gesicht wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Soll der Liebesgott hier einen Doktor darstellen, der mit medizinischen Mitteln versucht, Orfeo wieder in die Realität zurückzuholen? Oder ist Amor auch ein Teil Orfeos? Schließlich singt Orfeo auch einige Passagen, die im Libretto Amor zugedacht sind. Wenn sich die ganze Geschichte wirklich nur in Orfeos Kopf abspielt, ist vielleicht auch Amor nur ein weiterer Teil von ihm.

Musikalisch bewegt sich der Abend auf gutem Niveau. Bettina Ranch gestaltet die Partie des Orfeo mit sattem Mezzosopran und großen dramatischen Ausbrüchen. Dabei begeistert sie auch durch intensives Spiel. Ein Höhepunkt ist ihre Interpretation der berühmten Arie "Che farò senza Euridice?", dem wohl bekanntesten Stück aus der Oper, das Ranch mit viel Gefühl und Leidenschaft anlegt. Auch den inneren Kampf Orfeos stellt Ranch glaubhaft dar. Tamara Banješević punktet in der Partie der Euridice mit leuchtendem Sopran. Ihre eindringlichen Bitten und Vorwürfe lassen gut nachvollziehen, wieso Orfeo dem Gebot Amors nicht Folge leisten kann und sich schließlich nach der Geliebten umdrehen muss. Christina Clark stattet den Amor aus dem Off mit hellem Sopran aus. Der von Jens Bingert einstudierte Chor erfüllt als Stimmen in Orfeos Kopf aus dem Off den ganzen Raum, und Tomáš Netopil führt die Essener Philharmoniker mit leichter Hand durch die Partitur, so dass es für alle Beteiligten am Ende großen Applaus gibt.

FAZIT

Paul-Georg Dittrich findet eindringliche Bilder für seine Inszenierung von Glucks Reformoper. Der medizinische Ansatz ist dabei aber überflüssig, wenn nicht sogar störend.


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Produktionsteam

Musikalische Leitung
Tomáš Netopil

Inszenierung und Raum
Paul-Georg Dittrich

Video
Vincent Stefan

Choreinstudierung
Jens Bingert

Dramaturgie
Svenja Gottsmann

 

Essener Philharmoniker

Harfe
Gabriele Bamberger

Cembalo
Boris Gurevich

 

Solisten

Orfeo
Bettina Ranch

Euridice
Tamara Banješević

Orfeo (Video)
Dale Rhodes

Euridice (Video)
Larissa Machado

Amor
Emma Heinrich

Amors Stimme
Christina Clark

Stimmen
Chor des Aalto-Theaters

 

 



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Theater Essen
(Homepage)




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