Salzburger Festspiele: Das Drama geht weiter – endlich!

Mit einer musikalisch überragenden Premiere der «Elektra» von Richard Strauss läuten die Festspiele trotz der Corona-Pandemie ihre Jubiläumssaison ein. Wieder einmal setzt Salzburg damit Massstäbe – und ein Zeichen der Hoffnung für die gesamte Kulturwelt.

Christian Wildhagen, Salzburg
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«Was bluten muss? Dein eigenes Genick!»: Elektra (Ausrine Stundyte, links) mit ihrer verhassten Mutter Klytämnestra (Tanja Ariane Baumgartner).

«Was bluten muss? Dein eigenes Genick!»: Elektra (Ausrine Stundyte, links) mit ihrer verhassten Mutter Klytämnestra (Tanja Ariane Baumgartner).

Andreas Schaad / EPA

Wenige Sätze sind es nur, doch sie enthalten seit einem Jahrhundert das Programm für ein besonderes Schauspiel: «Edelsten Genuss wollen wir bieten. Geistigen Frieden wollen wir bringen», lauten zwei von ihnen, knapp und streng. Nicht kurzlebige Events versprechen sie, weder von Glamour noch von Stars und Sensationen ist die Rede. Hier gilt’s, ganz klassisch, der Kunst: dem Wahren, Schönen, Guten, und wer das Glück hat, daran teilzunehmen, dem blüht im besten Fall die Aussicht auf das ganz grosse Welttheater.

Ein dritter Satz, der wichtigste wohl, steht über den beiden Maximen: «Der Glaube an Europa ist das Fundament unseres geistigen Daseins.» Als Hugo von Hofmannsthal vor hundert Jahren das Gründungsmanifest der Salzburger Festspiele formulierte, hörbar getragen vom Pathos seiner Zeit, hatte dieses Europa soeben das erste globale Schlachten der Menschheitsgeschichte überstanden. In den zwei unruhigen Jahren seither waren indes noch einmal Abermillionen der Spanischen Grippe zum Opfer gefallen.

Unter solchen Umständen sollte es Festspiele geben? «Edelsten Genuss» für «geistigen Frieden»? Im Licht unserer Gegenwart berührt das seltsam, zu offensichtlich ist die Parallele zur Pandemie unserer Tage, wieder steht die Welt an einem Scheideweg. Kathartisch wirkt das in manchem Fall, bei anderen kehrt es das Unterste zuoberst. So auch im Allerheiligsten der Klassik: Ausgerechnet im Sommer ihres hundertjährigen Bestehens sind die Salzburger Festspiele, noch immer das mit Abstand bedeutendste Hochkulturfestival auf unserem gebeutelten Planeten, unversehens auf ihre Anfänge zurückgeworfen.

Tragfähiges Modell

Das muss ihr Schaden nicht sein, auch wenn zwei Drittel des ursprünglich mit allem Glanz und Gloria garnierten Jubiläumsspielplans einem pandemiekonformen Notprogramm weichen mussten. Wichtiger ist, wie seinerzeit in den schwierigen Anfangsjahren, dass diese Festspiele überhaupt stattfinden. Als Signal für die Kultur, dass es trotz allem weitergeht. Und als ein Signal dafür, dass die Kunst und ihre hohen Ideale auch in Zeiten der Not eine Bühne haben.

Noch nie in ihrer Geschichte standen die Festspiele deshalb derart unter kulturpolitischer Beobachtung wie in diesem Jahr. Denn klar ist: Wenn in Salzburg bis zum 30. August eine Reihe mit rund neunzig Veranstaltungen vor jeweils gut tausend Besuchern unfallfrei gelingt, ist ein tragfähiges Modell in der Welt und der Standard gesetzt. Dann gäbe es für die Politik in allen Ländern mit halbwegs kontrolliertem Infektionsgeschehen kaum noch Argumente, das Kulturleben mit teilweise praxisfernen Vorgaben strenger zu gängeln als viele Bereiche des öffentlichen Lebens. Zugleich wäre dies ein weiterer Beleg dafür, was der individuelle Kampfgeist engagierter Kulturschaffender gegen die allgemeine Regulierungswut vermag.

Salzburgs Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler, von Beginn an beseelt von diesem optimistischen Geist, und mit ihr der – anfangs durchaus noch zweifelnde – Intendant Markus Hinterhäuser haben um jedes Detail des Salzburger Modells gerungen, mit den Verantwortlichen im Bundesland, mit der Regierung in Wien. Sie haben dabei vermutlich häufiger daran erinnert, dass dieses Festival für die Kulturgrossmacht Österreich mehr ist als ein sommerliches Klassentreffen der Schönen und Reichen (obschon auch das seit Anbeginn dazugehört). Und sie haben, nicht zuletzt, differenzierte Proben- und Begegnungsregeln entwickelt mit mehrstufigen Schutzmassnahmen und engmaschigen Tests für alle Mitwirkenden.

Obendrein sind alle Besucherinnen und Besucher zur Preisgabe ihrer Daten für ein allfälliges Contact-Tracing verdonnert, ferner zum Tragen einer Maske zumindest bis zur Einnahme des Platzes in den Festspielhäusern, deren Sitzreihen nach dem inzwischen vielerorts üblichen Schachbrettmuster belegt werden. Ob dies alles reichen wird? «No risk, no arts», stichelten die «Salzburger Nachrichten» in einer Karikatur auf der Titelseite ihrer Samstagsausgabe, die das Leitungsteam in innigem Pas de deux über «sehr dünnes Eis» schlitteln sah. So dünn ist das Eis freilich nicht nur an den Ufern der Salzach.

«Wo bleibt Elektra?»

Markus Hinterhäuser hat aus der Not auch dramaturgisch eine Tugend gemacht, indem er sich seinerseits auf die Anfänge besann und sein Ersatzprogramm klug um drei Salzburger Säulenheilige herumgebaut hat: um Mozart, dem die Stadt recht eigentlich ihre musikalische Aura verdankt; um Hofmannsthal und seinen «Jedermann», mit dem die ersten Festspiele am 22. August 1920 begannen; und um Richard Strauss, der neben Max Reinhardt zu den geistigen Vätern des Festivals gehört.

Dessen Musikdrama «Elektra», das die spätere Zusammenarbeit mit Hofmannsthal als kongenialem Librettisten vom «Rosenkavalier» bis zur «Arabella» initiiert, eröffnete am Samstagabend den von zehn auf zwei Opern zusammengestrichenen Premierenreigen. Mit Franz Welser-Möst und den Wiener Philharmonikern im Graben war das Erfolgsgespann der frenetisch bejubelten «Salome» von 2018/19 ein weiteres Mal am Start. Asmik Grigorian, damals als fragile Prinzessin von Judäa gefeiert, kehrte in der Rolle der Chrysothemis zurück. Und mit Ausrine Stundyte als Elektra hatte das Festival eine der raren hochdramatischen Sopranistinnen gewonnen, die der wahrhaft mörderischen Titelpartie technisch wie konditionell gewachsen sind.

Beste Voraussetzungen also – doch dann passiert erst einmal wenig. Wer gehofft hatte, nach sechs Monaten erzwungener Diätklangkost endlich wieder vom satten Tutti eines hundertköpfigen Strauss-Orchesters in die Sitze gedrückt zu werden, musste sich gedulden. Der Regisseur Krzysztof Warlikowski stellt nämlich dem eröffnenden «Agamemnon!»-Schrei der Oper (der die gesamte Atridentragödie in nur vier Tönen verdichtet) einen länglichen Auszug aus der «Orestie» des Aischylos voran. Darin erzählt die Gattenmörderin Klytämnestra ihre ganz andere Sicht auf die Frage der Schuld am Desaster ihrer dysfunktionalen Sippe. Das ist nicht verkehrt, hilft dem Werk und seiner von Strauss sehr bewusst kalkulierten Schockwirkung jedoch überhaupt nicht.

Dann aber ertönt er doch noch, der wortlose «Agamemnon»-Ruf des Orchesters, und der Klang ist tatsächlich eine Erlösung, in mehrfacher Hinsicht. Zum einen spielen die Wiener Philharmoniker wirklich in voller Strauss-Stärke im dicht besetzten Graben der Felsenreitschule – eine spezielle Test- und Quarantäneregelung während ihrer Salzburger Residenz macht dies möglich. Zum anderen ist dieses Tutti wie alle späteren Fortissimo-Entladungen der extremen Partitur nicht einfach laut, sondern es atmet, bebt, hat Kraft und lässt den Sängern dennoch Raum. Wo diese Balance doch einmal ins Wanken gerät, greift Welser-Möst sofort dämpfend und beruhigend ein. Dies ist kein vorlauter, kraftmeiernder Strauss, eher einer der leisen, manchmal fahlen, ja unheimlichen Zwischentöne.

Ausrine Stundyte und Asmik Grigorian profitieren davon, weil sie die Partien der ungleichen Schwestern nie unter Druck gestalten müssen. Ihre ähnlich timbrierten Stimmen ergänzen sich ideal, und vor allem gegen Ende scheint es, als triebe eine die andere zu immer glanzvolleren Strauss-Höhen an. Mit einer feinsinnig aus dem Text gestalteten Seelenstudie der zerrütteten Mutter Klytämnestra schafft Tanja Ariane Baumgartner einen sinnigen Kontrast.

Beim Auftritt des sonoren Orest von Derek Welton hat auch die trotz allem Ausstattungsaufwand (Bühne und Kostüme: Małgorzata Szczęśniak) recht lineare Inszenierung mit ihrem Hang zu leicht lesbaren Familienaufstellungen einen grossen, über das Geschehen hinausweisenden Moment: Das Blut der erschlagenen Klytämnestra verwandelt sich per Videoprojektion in Sartres Fliegen, die rachsüchtigen Erinnyen; sie jagen den von der eigenen Bluttat überforderten Muttermörder ganz real aus dem Saal. Der triumphale C-Dur-Schluss der Oper läuft ins Leere, das Drama geht weiter.

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Auf der Seite https://www.salzburgerfestspiele.at/uebertragungen informieren die Festspiele über geplante Übertragungen der diesjährigen Festivalproduktionen.

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