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Abstand zum Mythos. Ausrine Stundyte (Elektra, links) und Tanja Ariane Baumgartner (Klytämnestra, vorn) in einer Szene der Oper „Elektra“ von Richard Strauss. Damit begann die 100. Ausgabe der Salzburger Festspiele.

© Barbara Gindl/dpa

Eröffnung der Salzburger Festspiele: So war der Auftakt des Festivals

Salzburg geht das Wagnis ein und eröffnet mit „Elektra“ die Festspiele. Die Mutter aller Festivals folgt eigenen Hygieneregeln und will zeigen, wie Kultur in der Pandemie funktionieren kann.

Im Sommer schaut die Welt auf Salzburg, zumindest jener Teil, der sich überdurchschnittlich für Oper, Konzert und Theater interessiert und sich das auch leisten kann. Dann weitet sich das enge Barockstädtchen für sechs Wochen zu dem, was den Gründern der Festspiele vor 100 Jahren vorschwebte – zur Weltbühne, zum Welttheater.

Dieses Jahr aber ist der Blick auf Salzburg ein ganz anderer geworden, denn hier findet ein Experiment statt, dessen Ausgang Auswirkungen auf die Kultur weltweit haben wird. Die wichtigste Inszenierung im Jubiläumsjahr steht nicht im Programm und heißt „Festspiele in Zeiten der Pandemie“.

Lange hat Helga Rabl-Stadler ihre Entscheidung hinausgezögert und währenddessen erlebt, wie ein Festival nach dem nächsten seine Saison 2020 aufgeben musste. Die Präsidentin der Salzburger Festspiele ist seit einem Vierteljahrhundert im Amt und weiß genau, wie Medien, Wirtschaft und Politik ticken.

Aufgeben kommt in ihrem Wortschatz nicht vor. Und dann kam tatsächlich ihr großer Moment, gerade noch rechtzeitig vor Ende Mai, dem Point of no return, an dem die Saison 2020 spätestens hätte abgesagt werden müssen. Die Coronafälle in Österreich gingen zurück, und mit den Lockerungen wurden auch Kulturveranstaltungen mit bis zu 1000 Besuchern ab dem 1. August wieder möglich.

Das Experiment soll zeigen: Kultur kann der Krise trotzen

Exakt an diesem Tag beginnen heuer die Salzburger Festspiele in einer reduzierten Form. Trotz zuletzt wieder ansteigender Ansteckungsrate, erneut verhängter Maskenpflicht beim Einkaufen und Latexhandschuhen am Hotelbüffet – die Regeln für die Kultur bleiben davon bislang noch unberührt.

Rabl-Stadler, früher auch Politikerin für die konservative ÖVP von Kanzler Kurz, hat einen direkten Draht zur Regierung. Eine Sonderreglung für Salzburg aber hat sie stets abgelehnt. Vielmehr soll hier exemplarisch gezeigt werden, dass Kultur der Infektionskrise tatsächlich trotzen kann.

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Der Aufwand dafür ist hoch. 300.000 Euro werden in Schutzmaßnahmen investiert, um Nähe zu ermöglichen. Denn anders als etwa in Berlin, wo Orchester mit weitem Abstand auf dem Podium überhaupt nur proben dürfen, sitzen die Wiener Philharmoniker, das Salzburger Hausorchester seit 1922, kompakt beieinander. Bei der Eröffnung mit Richard Strauss’ „Elektra“ spielen 107 noch immer überwiegend männliche Musiker, da wird es selbst in der gewaltigen Felsenreitschule eng im Orchestergraben.

Die Lösung: Der innerste Festspielkreis – Orchester, Chöre und Solisten – wird zur Personengruppe Rot erklärt und regelmäßig auf das Virus getestet. So ist es möglich, dass sich Elektra und ihre Schwester Chrysothemis auf offener Szene umarmen können. Soziale Kontakte außerhalb des roten Kreises sind während der Festspielzeit nicht erwünscht und müssen in einem Buch dokumentiert werden.

Die Musiker werden regelmäßig auf das Virus getestet

Während die Kunst durch Tests und Disziplin einen Freiraum erringt, muss das Publikum noch viel lernen. Als die Festspiele ihr Notfallprogramm bekannt gaben, waren bereits sagenhafte 180 000 Tickets für die 100-Jahre-Ausgabe verkauft. Danach gab es nur noch 76 383 Tickets im Angebot, aktuell sollen noch 6000 davon zu haben sein.

Ganze Festspielgemeinschaften fehlen dieses Jahr, vor allem aus Asien und den USA. Das internationalste Sommerfestival schlechthin stützt sich dieses Jahr auf Besucher aus Österreich, Deutschland und der Schweiz.

Doch alles scheint besser als keine Festspiele. Sie sind der wirtschaftliche Motor für Stadt und Land, dabei erwirtschaften sie normalerweise 75 Prozent ihres Budgets selbst, ein Rekordwert im Kultursektor. Und so geht es natürlich auch um Geld bei diesem Experiment, das darf man bei aller Wiedersehensfreude mit der Kultur nicht vergessen.

Salzburg wirkt am Eröffnungstag wie ausgestorben. Dort, wo stete Scharen von Touristen den Spuren von Mozart und Mehlspeisen folgen, herrscht Leere. Sie bietet Raum für Protest, der sonst zu Festspielzeiten niemals freie Bahn gehabt hätte. Begleitet von hohlen Trommelschlägen wanken Strommasten durch die Gassen.

Gegner einer Überlandtrasse fordern Erdkabel und demonstrieren im „Jedermann“-Aufzug. Die Polizei lässt sie gewähren, es ist ja sonst nichts los.

„Vorsicht, sehr dünnes Eis!“

Das rituelle Schaulaufen der Festspielprominenz ist nicht wiederzuerkennen. Es gibt keine Pausen, keine Büffets, die Türen öffnen erst kurz vor Beginn. Da fällt es schwer, bella figura zu machen, mit einer Maske im Gesicht, die beim Betreten der Felsenreitschule Pflicht ist.

Kamerateams filmen Gesichtsbedeckungen anstelle von Kleidern, ein ORF-Interviewer stellt seine Frage trotzig mit Zigarrenstummel im Mund. Man zeigt sich mit österreichischer Flagge über Mund und Nase, die Schauspielerin Sunnyi Melles kommt mit Visier und Maske, Peter Handke trägt ein Reclam-Bändchen vor sich her, Sophokles’ „Elektra“, zweisprachig Griechisch-Deutsch.

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Die „Salzburger Nachrichten“ begleiten den Auftakt der Corona-Festspiele mit einer Karikatur auf ihrer Titelseite. Sie zeigt die Präsidentin und den Intendanten Markus Hinterhäuser als Eislaufpaar, das vor den Festspielhäusern seine Pirouetten dreht. Ihre Augen sind geschlossen, die unbedeckten Gesichter strahlen vor Selbstgewissheit, die Masken baumeln lässig am Handgelenk.

„No Risk, No Arts“ prangt neben ihnen als Motto der Jubiläumsfestspiele in einer Vitrine und für die, die es immer noch nicht verstanden haben, ist mit Blick auf die Festung Hohensalzburg noch ein Warnschild eingezeichnet: „Vorsicht, sehr dünnes Eis!“ Dessen ist sich Rabl-Stadler durchaus bewusst. Sie fürchtet, Festspielgäste könnten sich in Restaurants infizieren und will mit einer Plakette „sichere Partnerbetriebe“ kennzeichnen.

Wird von Salzburg ein zweites Ischgl ausgehen – oder ein Signal, wieder mehr Kultur wagen zu können? War man andernorts zu hasenfüßig, wie im hier gerne belächelten Berlin? „Im Gegensatz zu so vielen Festspielen in anderen Ländern hat unser Direktorium Weitsicht, Beharrlichkeit und Diplomatie bewiesen“, freut sich die Pressechefin. Mit der Pressekarte für die Eröffnung hat es dann aber trotzdem nicht geklappt.

Desinfektionsmittel für alle, aber kein Wasser

Doch wer über Krisengebiete berichtet, baut vor und bucht zur Sicherheit noch ein kostenloses Ticket beim Public Viewing auf dem Kapitelplatz. Dort gibt es Einlass nur nach Registrierung, die Sitzplätze sind mit Abstand am Boden verschraubt. Es herrschen 32 Grad im Schatten, doch der ist hier um 17 Uhr nirgends zu finden. Es gibt Desinfektionsmittel für alle, aber kein Wasser. Die lockeren Reihen sind noch lockerer besetzt und immer mehr Zuschauer wandern wieder ab, aus berechtigter Angst vor dem Hitzschlag.

Durch die Sonnenbrille lassen sich immerhin Schemen auf der sonnengefluteten LED-Leinwand ausmachen. Die Tonübertragung beginnt mit dem Zirpen von Zikaden. Regisseur Krzysztof Warlikowki nimmt zu Recht an, dass sein Publikum nicht nur aus Top-Informierten wie Peter Handke besteht.

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So lässt er vor dem dunklen Orkan der ersten Strauss-Takte Klytämnestra mythologische Gerechtigkeit widerfahren, weil aus ihrem Mund kund wird, warum sie ihren Mann Agamemnon erschlug. Der opferte einst die gemeinsame Tochter Iphigenie für gute Winde im Krieg gegen Troja. Das Ganze ist Teil eines erbarmungslosen Fluchs, der über fünf Generationen die Sippe der Atriden auslöscht, ein Dramenstoff seit Jahrtausenden. Corona kennen wir erst seit wenigen Monaten und das auch nur dürftig.

„Electra“ ist Überwältigung, auch für die Ohren

Strauss und sein Dichter Hugo von Hofmannsthal, spätere Mitbegründer der Salzburger Festspiele, hatten 1909 bewusst einen Ausschnitt des Dramas gewählt und in ihm das Unbewusste ausgeleuchtet, schlaglichtartig wie von einer Fackel, die in einen dunklen Brunnen geworfen wird. „Elektra“ ist die einzige Opernproduktion, die es unverändert in die Pandemiesaison geschafft hat.

Ein gewaltiger Hieb, die schiere Überwältigung auch für die Ohren, die seit März live höchstens an Kammermusik gewöhnt waren. Und eindeutig zu viel für die Möglichkeiten des „neu ausgeklügelten Soundsystems mit Raumsimulation“ auf dem Kapitelplatz. Dort kann man allenfalls erahnen, dass die Wiener Philharmoniker unter Leitung von Franz Welser-Möst von ihrer luxuriösen Wucht auch lustvoll Gebrauch machen.

Was aber noch eindrucksvoller ist: Diese „Elektra“ hallt durch die Erinnerung als ein rarer Moment der Ebenbürtigkeit ihrer drei weiblichen Hauptdarstellerinnen. Ausrine Stundyte (Elektra), Asmik Grigorian (Chrysothemis) und Tanja Ariane Baumgartner (Klytämnestra) erweitern den Spielraum ihrer festgezurrten Rollen – eine große Leistung im Angesicht der Aussichtslosigkeit des Mythos.

In der Nacht entlädt sich blitzewerfend ein erstes Gewitter über der Salzach. Noch ist es rein meteorologischer Natur. Schlechte Aussichten für „Jedermann“ auf dem Domplatz.

Die Salzburger Festspiele gehen bis zum 30. August. So lange ist auch die „Elektra“-Inszenierung auf Arte Concert online abrufbar. Weitere Infos unter salzburgerfestspiele.de

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