Zwischen den beiden wird nichts mehr gut: Die von Albträumen geplagte Mutter Klytämnestra (stehend: Tanja Ariane Baumgartner) und ihre besessene Tochter Elektra (Ausrine Stundyte) belauern einander.
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Gemeinhin ließe sich Elektra als Untote verstehen, die nur noch vom Wunsch nach Vergeltung aufrecht gehalten wird. Der von ihr zwanghaft in Tönen durchlebte Tod ihres Vaters Agamemnon erscheint in der Oper von Richard Strauss wie ein Trauma, das Elektra dahingerafft und gleichsam in posttraumatischer Besessenheit konserviert hat. In Salzburg wirkt sie allerdings einmal nicht nur reduziert auf diese eine Dimension.

Als frisurzerzauste Frau in einem weißen Blümchenkleid könnte sie eine jener Schaulustigen sein, die mitbekamen, wie sich vor dem Einlass zur ersten Premiere dieser reduzierten Salzburger Festspiele doch wieder das übliche Gedränge abspielte. Weit und breit kein Babyelefant, hätte Elektra gedacht, wäre sie dort gewesen. Bei ihrem labilen Nervenzustand, das Kettenrauchen mag ein Hinweis für ihr inneres Dauerzittern sein, ist das jedoch eher unwahrscheinlich.

Auch zu Beginn, wenn Klytämnestra ans Mikro tritt wie eine zornig aufgewühlte Popsängerin, um auf die Vorgeschichte des von ihr vollführten Gattenmordes zu rekurrieren, beruhigt sich Elektra nur mit tiefen Nikotinzügen. Was sie nicht sieht: Während ihre verhasste Mutter von der Opferung ihrer Tochter Iphigenie durch Agamemnon erzählt (es basiert auf Klytämnestras Monolog aus Aischylos’ Agamemnon), geht ein Mädchen in einem Schwarz-Weiß-Video herum.

Als flehendes Schwesterlein: Elektra mit Chrysothemis (liegend: Asmik Grigorian), eine lebenslustige Clubbinglady mit Kinderwunsch.
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Gleichzeitig aber ist diese Szene mit der kleinen Iphigenie und dem Zigarre rauchenden Agamemnon in jenem Quader zu erleben, der seitlich steht und wie ein lebendiges Museum wirkt. In ihm ist ein Teil der blutigen Artriden-Geschichte der endlosen Rache gespeichert. Das jedoch sieht Elektra, hört ihrer sich rechtfertigenden Mutter rauchend zu. Deren Worte scheinen sie jedoch mehr zu foltern, als so etwas wie Verständnis auszulösen.

Flehend, lasziv, grausam

Das ist längst eine kalte Nichtbeziehung, allerdings kann Elektra auch ganz andere Charaktertöne anschlagen. Wenn sie ihre Schwester Chrysothemis, eine lebenslustige Clubbinglady mit Kinderwunsch, anfleht, mit ihr den Mord an Mutter und Ägisth (sehr klar Michael Laurenz) zu begehen, ist sie ganz flehendes Schwesterlein.

Wenn sie Ägisth den letzten Weg zu Orest weist, wird sie zur perfiden, lasziv lockenden Heuchlerin. Und trifft sie ihre zwar äußerlich kostbar behängte, jedoch psychosomatisch angegriffene Mutter, die von Elektra Mittel gegen ihre Schlaflosigkeit erhofft, wird sie zur grausam prophetischen Ärztin. Genussvoll eröffnet sie Klytämnestra (subtil und intensiv Tanja Ariane Baumgartner), ruhigen Schlaf würde ihr nur ein blutiges Ende bescheren. Ihrem Bruder Orest wiederum begegnet sie als ihre Verwahrlosung beklagende Frau, also: In diese Figur hat sich Regisseur Krzysztof Warlikowski sehr produktiv vertieft.

Bruder und Muttermörder Orest (Derek Welton) agiert bei der Begegnung mit Elektra fast teilnahmslos.
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Ausrine Stundyte geht auch vokal ganz in der Rolle auf. Sie berückt als dramatische Wutfrau, die sich mit klaren, punktgenauen Spitzentönen über das edle orchestrale Nervensystem erhebt. Zu Beginn ist da ein bisschen viel Vibrato zu hören. Später strömt die Stimme allerdings klar und rund auch in Momenten lyrischer Intimität. In der Tiefe ist mitunter wenig Strahlkraft zu erleben. Mit sprechgesanglicher Rauheit vermittelt Stundyte jedoch effektvoll jenen bitteren Ekel, der Elektra bisweilen befällt.

Es gibt allerdings auch Leerstellen in der Inszenierung. Den Riesenraum der Felsenreitschule prägen entlang der Wände angebrachte Sitzreihen. Da sind auch Duschen und ein längliches Schwimmbad, auch drei bisweilen umgruppierte Kinderpuppen und besagter Quader als Epizentrum von Tod und Familiengeschichte. Dennoch wirkt in dem durchdachten Ambiente (Bühne: Małgorzata Szczęśniak) Asmik Grigorian etwas verloren als Elektras Schwester Chrysothemis.

Scheinbar wenig gefordert

Eingedenk ihrer grandiosen Rollengestaltung der Salome vor zwei Jahren erscheint die vokal tadellose Sopranistin etwas unterinszeniert und wenig gefordert – wie auch Orest (nobel Derek Welton). Der Muttermörder, der zum Schluss durch den Zuschauerraum torkelt und sich eines unsichtbaren Insektenschwarms erwehrt (es werden wohl die Erinnyen sein), agiert bei der Begegnung mit Elektra doch fast teilnahmslos. So bleibt die szenische Last tendenziell bei der Hauptfigur, die zum alleinigen energetischen Zentrum wird.

Wie sie die Gewissheit überkommt, dass Brüderchen und Vollstrecker Orest lebt, scheinen die sich am Boden rekelnde Elektra regelrecht Wallungen eines inzestuösen Begehrens zu durchströmen. Zum letalen Schluss hin ist sie wiederum am Ziel und zugleich am Ende: Nachdem das Blut von Mutter und Ägisth geflossen ist, sackt Elektra zusammen und vollführt auf jener Liege, unter der sie schon einmal mit einem Beil kuschelte, die letzten Verrenkungen eines Todestanzes.

Gesamtkunstwerkliche Verdichtung: In dem auf die Arkaden der Felsenreitschule projizierten Video wird ein Blutfleck von einem immer dichter werdenden Fliegenkollektiv verzehrt.
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Blutfleck und rasende Fliegen

In diesem Augenblick schwingt sich die Inszenierung von Warlikowski zu ihrem Höhepunkt an gesamtkunstwerklicher Verdichtung auf: Während im auf die Arkaden der Felsenreitschule projizierten Video ein Blutfleck von einem immer dichter und kreisförmig rasenden Fliegenkollektiv verzehrt wird (Kamil Polak), schiebt sich der Quader in die Bühnenmitte, in dem sich auch Dirigent Franz Welser-Möst spiegelt. Sie sind alle da: Im Museum der Rache steht Chrysothemis ihrem Bruder Orest bei und säubert die Leiche ihrer Mutter, draußen siecht Elektra dahin. Es ist eine Choreografie von Körper, Architektur und Video, die zu einer szenischen Polyfonie führt, zu der auch der orchestrale Darsteller zählt.

Prunkvoll ist die Schlussgeste der Wiener Philharmoniker. Nobel aber ist die gesamte Gestaltung der nervösen, Richtung wechselnden, angespannten Aufwühlmusik von Strauss. Dirigent Franz Welser-Möst und die Philharmoniker erreichen eine produktive Balance zwischen diskreter Sinnlichkeit und effektvoller Sachlichkeit. Die Klarheit der Strukturen wird zugleich gewahrt und doch mit kultiviertem Sound veredelt, der auch im Dramatischen seine Aura bewahrt. Ob nun nervös rasende Linearität, katastrophische Mehrdeutigkeit des Harmonischen oder eben seliger Klang zu evozieren ist.

Es bleibt elegant und zugleich packend und trägt durch gewisse Leerstellen der von den ungefähr 890 Erschienenen mit Applaus bedachten Regie – von denen eine signifikante Zahl den Mund-Nasen-Schutz auch während der Vorstellung trug. Eine Bandstimme hatte es ihnen nicht befohlen, jedoch empfohlen, vorsichtig zu sein. Vielleicht war der eine oder andere zuvor auch beim ersten Termin der Gesprächsreihe zum 100er der Festspiele gewesen. Bevor Alexander Kluge loslegte, sprach Intendant Markus Hinterhäuser bezüglich des diesjährigen Festivals von einem doch mulmigen Gefühl und bat ums Daumenhalten, "dass wir das halbwegs gut über die Bühne bringen." (Ljubiša Tošić, 2.8.2020)