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Carmen ohne Zauberbann

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Dass selbst die beliebteste Oper der Welt kein Selbstläufer ist, lässt sich aktuell bei der Wiesbadener Saisoneröffnung beobachten: Uwe Eric Laufenbergs Urfassungsidee verheddert sich in den Fallstricken der Umsetzung und Lena Belkina als Carmen beim Versuch, die Charakterschwärze der Titelfigur herauszuarbeiten.

So hehr das Ziel, so tückisch die technische Ausgestaltung auf der Bühne. Am Staatstheater Wiesbaden ist jetzt Bizets »Carmen« in einer Urfassungsvariante zu sehen, was bedeutet: Carmens Charakter soll noch kälter und ungeschliffener freigelegt werden - ganz im Sinne ihres Erfinders Prosper Mérimée. Die Schwierigkeit: Alle Sängerdarsteller müssen zwischen den Musikpassagen lange, französische Dialoge bewältigen, die einen engen Bezug zur Novelle aufweisen und den Gepflogenheiten der Pariser Opéra Comique um 1875 nahe kommen. Spannungstechnisch birgt das Probleme, was sich besonders im ersten und zweiten Akt zeigt: Immer, wenn gerade richtig Schwung in die turbulenten Ereignisse rund um die berühmteste Femme Fatale der Operngeschichte kommt, sorgte ausuferndes Parlieren dafür, dass die Spannung in sich zusammenfällt wie ein heißes Souflé, das zu früh aus dem Ofen geholt wurde.

Dabei war Intendant Laufenberg anfangs volles Risiko gefahren und hatte die Charakterzeichung des Abends aggressiv vorgegeben: Zu den Klängen der Ouvertüre zwang er das Publikum, sich Filme einer weiblichen Matadorin anzusehen, die er auf den Vorhang projizieren ließ.

Nun steht und fällt das Bild von Carmen als kaltem Todesengel mit der Besetzung der Titelpartie. Mit der ukrainischen Sängerin Lena Belkina fiel die Wahl auf eine warme, wohlklingende Mezzosopranistin, die über blitzsaubere Einsätze, grandioses Rhythmusgefühl und verführerische Habanera-Girlanden verfügt. Auch konnte sie sich glaubhaft in weichen Negligés in Szene setzen und in Lillas Pastias Schmugglerbar anregend die Seguidilla girren. Wenig besaß sie von der geforderten Angriffslust und der kühlen Strategie einer Matadorin in Stimme und Spiel. Und das düster flackernde Feuer der Leidenschaft, das sie und alle um sie herum willenlos in den Abgrund reißt, glimmte bei ihr nur auf Sparflamme.

Auch die Besetzung mit Sébastien Guèze als Don José geriet durchwachsen. Anfangs mit spürbaren Problemen in den Höhen kämpfend, sang sich der französische Tenor zunehmend in die immensen Anforderungen der Partie hinein. Packend gestaltete er die finale Verzweiflung kurz vor dem Mord an der Geliebten.

Zum solistischen Lichtblick des Abends wurde Sumi Hwangs Micaela, die ihre Rolle des braven Bauernmädchens mit strahlendem Sopran, Innigkeit und engagiertem Spiel bestmöglich in Szene zu setzen wusste. Edel fehlbesetzt wirkte dagegen der sonst immer überzeugende Christopher Bolduc, der mit den Tiefen seiner Auftritts-Arie als Escamillo rang.

Dass Gisbert Jäkel für die dreieinhalb Stunden als Einheitsbühne eine Stierkampfarena gebaut hatte, in der sich bis auf eine drehbare Kulissenwand nichts bewegte, verstärkte den immer wieder abreißenden Spannungsfaden. Dabei war die Einfall, Arena und Zuschauerraum zu einem einzigen, todtriefenden Collosseum zusammenzudenken so schlicht wie genial. Packend gelang Laufenberg in diesem Zusammenhang der quirlige Einzug der Toreros in die Stierkampf-Arena, bei dem die Jugendkantorei der Evangelischen Singakademie Wiesbaden und der Chor und Extrachor des Hessischen Staatstheaters von der Rampe aus in den Zuschauerraum sangen und mit den Fingern ins Publikum zeigten.

Generalmusikdirektor Patrick Lange, der vorzüglich den feurigen Esprit der Partitur freilegte und die rhythmischen Raffinessen des spritzigen Schmuggler-Quartetts bändigte (Silvia Hauer, Shira Patchornik, Julian Habermann und Ralf Rachbauer), entwickelte trotz technischer Detailschärfe nicht den wirklich großen Opernsog.

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