Es gibt Abende, an denen vielleicht nicht alles perfekt ist, aber trotzdem ein besonderer Zauber entsteht – der hier besprochene erste Don Carlo der Saison 2019/2020 am Haus am Ring ist so ein seltener Glücksfall. Das ist nicht nur einer ausgezeichneten Sängerriege zu verdanken, sondern auch der musikalischen Leitung von Jonathan Darlington. Sein Verdi-Debüt am Haus war fulminant und ist hoffentlich Auftakt zu mehr.

Ein Teil des Wiener Staatsopernpublikums hadert nach wie vor mit der Inszenierung von Daniele Abbado aus 2012, denn diese hat einen konzeptionellen Fehler: Auch wenn man „nur” die vieraktige Mailänder Fassung gibt, bleibt das Grundkonzept des Werks eine Grand opéra, und dies verträgt sich nur bedingt mit dem minimalistischen Kammerspiel, das Abbado anscheinend vorschwebte: Wenn der König in der Autodafé-Szene vom gemeinen Volk umringt ist, wirkt das jedes Mal wieder unglaubwürdig. Allerdings muss man dem Regisseur zugestehen, dass die Choreographie in dem verengten Bühnenraum gut gelöst ist.

Auftritt also Don Carlo in der Gestalt von Fabio Sartori, und man horcht erstmals auf: So stimmig bekommt man die erste Arie, die an einigen Stellen ziemlich unangenehm in der Kehle liegt (und gegenüber den übrigen „Hits” dieses Werks trotzdem wenig hermacht), kaum jemals zu Gehör. Ärgerlich nur, dass man Sartori dafür in ein Kostüm gesteckt hatte, das eher an Sancho Panza denn an den Infanten von Spanien denken ließ. Wenn die Idee dahinter die ist, ihn optisch in Richtung Rodrigo zu rücken, kann man das nachvollziehen, und von seinem königlichen Übervater muss er sich auch abheben; allerdings fällt es schwer zu glauben, dass Elisabetta in ihn verliebt sein soll. Glücklicherweise sind solche Ungereimtheiten schnell vergessen, wenn Sartori singt. Er hat das richtige Timbre für dieses Fach, durchschlagkräftig und doch mit schöner Linienführung. Nur im Duett mit Sir Simon Keenlyside als Rodrigo ließ er sich intonationsmäßig ein wenig verunsichern.

Keenlyside hat Marquis von Posa schon lange im Repertoire, und holt nach wie vor das Beste aus dieser Figur. Manches fällt ihm zwar nicht mehr so einfach wie früher, aber bei der Nagelprobe dieser Partie, in der Sterbeszene, war er ganz in seinem Element – fast hatte man den Eindruck, dass ihn das Singen im Liegen beflügelte. Als Bühnenerscheinung neigt er mitunter zur Exzentrik, aber diese dosierte er für Rodrigo sparsam.

Als Prinzessin Eboli war Elena Zhidkova eine elegante Erscheinung, zudem spiegelte das dunkle Rosenrot ihres Kostüms ihre Stimmfarbe – schade nur, dass die Koloraturen in ihrem maurischen Lied etwas unrund gerieten. „O don fatale” ist natürlich immer eine Lieblingsstelle des Werks, doch hatte sie ihren besten Moment in der Begegnung mit Carlo und Rodrigo im zweiten Akt – ein geradezu idealtypisches Porträt von gekränkter Eitelkeit.

Der Anfang des dritten Aktes gehört zunächst einem fähigen Cellosolisten, dann dem einsamen König in seiner Kammer: „Ella giammai m'amò” ist für viele eine der schönsten Arien überhaupt, und von René Pape weiß man, dass er sie an guten Tagen wie kein anderer beherrscht. Am besprochenen Abend fiel sie ihm merkbar schwerer, doch legte er so viel Emotion in seine Darbietung, dass man nicht umhinkam, ihn auch dafür zu bewundern. Bemerkenswert auch, wie Pape seine Stimme mit dem Erscheinen des Großinquisitors von brüchiger Wehmut auf glasklaren Machtkampf umschaltete. War schon die Szene mit Rodrigo am Ende des ersten Aktes eine spannende Angelegenheit, galt das für das Gipfeltreffen der Bässe nicht minder. Hilfreich war dabei, dass man mit Dmitry Ulyanov einen Großinquisitor zur Verfügung hatte, der bei aller Stimmschwärze über die Kraft des besten Mannesalters verfügt; zu oft hört man Bässe, die sich knapp vor Karriereende durch diese Partie wackeln. An diesem Abend gefiel auch der dritte Bass; Jongmin Park ist für den Frate/Carlo V geradezu eine Luxusbesetzung; auch der Chor und das weitere Ensemble zeigten sich tadellos.

So weit, so wunderbar, doch dann gibt es noch den vierten Akt, an dessen Beginn Elisabetta ihren großen Auftritt hat. Von Anja Harteros weiß man, was sie kann, und dementsprechend hoch waren die Erwartungen, nicht zuletzt geschürt durch ihre Leistungen in den Akten davor. Der Einstieg in „Tu che le vanità” liegt für sie zwar etwas tief, aber kaum hatte sie das buchstäbliche „profondo” hinter sich gelassen, zeigte sie die gesamte Bandbreite ihrer Kunst, vom zarten Pianissimo bis hin zum dramatischen Ausbruch – daneben verblassen einige der besten Tonaufnahmen. Daran hatte auch der bereits eingangs erwähnte Jonathan Darlington seinen Anteil. Nicht nur, aber besonders bei dieser Arie passte alles ganz genau, das Orchester atmete geradezu mit der Protagonistin mit und ließ sie auf der perfekten Welle reiten. Insbesondere die Streicher spielten diszipliniert und erlaubten sich trotz der Länge des Werks keinen Durchhänger.

Nach dem Jubel, den Harteros' Auftritt nach sich zog, hätte man beglückt nach Hause gehen können. Aber bekanntermaßen haben dann noch einmal die finsteren Männer ihren Auftritt, womit man zurück in die Realität geholt wurde; allerdings geriet auch das Finale des Abends so qualitätsvoll wie der Rest.

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