Bregenzer Festspiele: Dieser Kopf kann viel, fühlt aber nichts

Das Festival zeigt auf der Seebühne im Bodensee Philipp Stölzls spektakuläre Bebilderung des Verdi-Klassikers «Rigoletto». Der technisch eindrucksvollen Neuproduktion fehlt allerdings etwas Entscheidendes.

Michael Stallknecht, Bregenz
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Alles im Blick: Rigolettos Kopf beherrscht das gesamte Zirkus-Erdenrund im Bodensee. (Bild: Karl Forster / Bregenzer Festspiele)

Alles im Blick: Rigolettos Kopf beherrscht das gesamte Zirkus-Erdenrund im Bodensee. (Bild: Karl Forster / Bregenzer Festspiele)

Es wird das Bild dieses Bregenzer Festspielsommers werden: In einem Heissluftballon steigt Rigolettos Tochter vierzehn Meter hoch in den Nachthimmel auf, nachdem das leuchtende Luftgefährt der Umklammerung durch eine übergrosse Hand entwichen ist. Spektakuläre Bühneneffekte zu Luft und zu Wasser, dazu ein die Handlung symbolisch verdichtendes Bühnenbild – das ist von jeher die Mischung, mit dem die Bregenzer Festspiele an Sommerabenden bis zu siebentausend Zuschauer pro Aufführung an den Bodensee locken.

Dass Philipp Stölzl sie für Giuseppe Verdis Opernklassiker «Rigoletto» liefern würde, war absehbar. Stölzl ist nicht nur als Opernregisseur bekannt, der gern auf imposante Bühnenbilder setzt, sondern auch als Regisseur von Kinofilmen und Videoclips, wo man von Haus aus weniger effektscheu ist als an den Theatern. Als sein eigener Bühnenbildner hat er, unterstützt von Heike Vollmer, den Kopf und die Hände eines Clowns auf die Bregenzer Seebühne bauen lassen, zeichenhaft für den Hofnarren Rigoletto, der seine Tochter gängelt, um sie vor der zynischen höfischen Welt zu bewahren – und sie deshalb umso sicherer an sie verliert.

Im Zirkusmilieu

Obwohl es architektonisch vergleichsweise minimalistisch wirkt, kann dieses Bühnenbild technisch noch weit mehr, als man selbst an diesem Ort zu sehen gewohnt war. Rund 35 Tonnen schwer und über dreizehn Meter hoch ist allein die Konstruktion des Kopfes, der, an einer computergesteuerten Stahlwippe befestigt, in sämtlichen Drehwinkeln nach unten ins Wasser eintauchen, mit blinzelnden Augen nach oben linsen oder das Maul furchterregend aufreissen kann, um den unersättlichen sexuellen Appetit des Herzogs zu verdeutlichen.

Im Lauf des Abends verliert der Kopf mit dem Niedergang Rigolettos langsam Augen, Nase und Zähne, bis nur noch ein Totenschädel übrig bleibt, aus dem sich zum Gewitter des Schlussaktes aber immer noch eindrucksvolle Wassermassen auf die Bühne ergiessen. Keine Frage: Stölzl passt nach Bregenz wie der Clown in den Zirkus, was durchaus wörtlich zu nehmen ist. Denn nicht nur Rigoletto ist hier ein Clown, alle anderen Figuren sind es auch. Stölzl hat die Handlung ins Zirkusmilieu verlegt, in dem der Herzog der Zirkusdirektor ist, der sich, unterstützt von vier bösartigen Affen, mit der Peitsche Frauen gefügig macht.

Fest in Vaters Hand: Gilda (Mélissa Petit) und Rigoletto (Vladimir Stoyanov). (Bild: Karl Forster / Bregenzer Festspiele)

Fest in Vaters Hand: Gilda (Mélissa Petit) und Rigoletto (Vladimir Stoyanov). (Bild: Karl Forster / Bregenzer Festspiele)

Diese konzeptionelle Entscheidung erweist sich allerdings gleich auf mehreren Ebenen als fatal: erstens politisch, weil die verkommene höfische Gesellschaft ungeachtet einiger inszenierter Brutalitäten als lustige Zirkustruppe durchgeht; zweitens dramaturgisch, weil darüber der Kontrast zwischen höfischer und privater Welt verwischt wird; drittens inhaltlich, weil der für das Stück konstitutive Gegensatz von Maske und Demaskierung, von Spiel und Wahrhaftigkeit verloren geht. Vierten schliesslich und vor allem: menschlich.

Höfische Dekadenz in der Zirkuswelt. (Bild: Karl Forster / Bregenzer Festspiele)

Höfische Dekadenz in der Zirkuswelt. (Bild: Karl Forster / Bregenzer Festspiele)

Gegen die grotesken Zirkuskostüme von Kathi Maurer können die Sänger kaum anspielen, zumal Stölzl für die Personenregie kaum etwas eingefallen ist, was sich auch in den gewaltigen Dimensionen der Seebühne über Nähe und Distanz erzählen liesse. Stattdessen lässt er auch in den intimsten Szenen ständig die Bühnenmaschinerie rotieren und die Sänger wie die Stuntmen-Gruppe Wired Aerial Theatre in oft lebensgefährlicher Höhe an Seilen auf, in und über dem Kopf und den Händen herumturnen.

Dass der Bariton Vladimir Stoyanov unter seiner weissen Gesichtsschminke zwischen zwei abstehenden Zöpfen dennoch etwas von der Trauer, der Melancholie des eigentlich unfreiwillig den Narren gebenden Rigoletto erfahrbar macht, ist deshalb eine grosse sängerische Leistung. Stoyanov neigt zwar dazu, in den kraftvollen Ausbrüchen allzu viel Material einzusetzen, was in der Premiere ein paar gefährlich heisere Töne nach sich zieht. Doch wann immer er in die leisen Farben geht, auch die Möglichkeiten der Mezzavoce nutzt, spinnt er, hochmusikalisch und aus einem intensiven stilistischen Bewusstsein für die Rubato-Kultur der italienischen Oper, Linien, die berühren.

Wird Gilda der Umklammerung ihres Vaters Rigoletto entkommen? Vielleicht hilft ein Heissluftballon. (Bild: Karl Forster / Bregenzer Festspiele)

Wird Gilda der Umklammerung ihres Vaters Rigoletto entkommen? Vielleicht hilft ein Heissluftballon. (Bild: Karl Forster / Bregenzer Festspiele)

Stephen Costello bleibt dagegen ein solider, den komplexen Anforderungen der Partie gerecht werdender Herzog, der sich zu Beginn gerade in den Höhen noch freischwimmen muss. Die elegante Kraft der Verführung und die zerstörerische Vitalität der Figur fehlen ihm ebenso wie die Farben echter Verliebtheit, die bei der Eroberung Gildas hörbar werden müssten. Diese bleibt in der Verkörperung durch das langjährige Zürcher Ensemblemitglied Mélissa Petit buchstäblich durch zirzensische Leistungen im Gedächtnis: weil Petit vokal ebenso sicher in den Höhen ihrer Partie herumturnt wie quer durch die Inszenierung, die ihr, neben der Stunttruppe, die meisten Drahtseilakte abverlangt.

Durchsichtig

Dass die Sänger gleichwohl oft seltsam blechern klingen, ist eine Enttäuschung angesichts des berühmten Bregenzer Soundsystems, das in diesem Jahr nochmals für 2,5 Millionen Euro weiterentwickelt wurde. Nur das im Innern des Festspielhauses spielende Orchester kommt klanglich so leicht auf der Zuschauertribüne an, wie es das Dirigat von Enrique Mazzola vorgibt.

Mazzola hat mit den Wiener Symphonikern einen maximal durchsichtigen Klang entwickelt, in dem auch die instrumentalen Soli viel Raum gewinnen. Die Rhythmen federn elegant, Akzente explodieren mit knapper Härte, die Präzision ist auch bei den beiden Chören – dem auf der Bühne agierenden Festspielchor und dem drinnen singenden Prager Philharmonischen Chor – vorbildlich.

Für dieses Klangbild opfert Mazzola indes konsequent Verdis «tinta nera», die dunklen, wolkenverhangenen und schwarzen Farben des Stücks. Selbst die nächtliche Begegnung zwischen Rigoletto und Sparafucile (Miklós Sebestyén), dem späteren Mörder Gildas, kommt mit fast operettenhafter Leichtigkeit daher. Rein handwerklich ist das fraglos eine Meisterleistung; allerdings fehlt dem Stück musikalisch jede menschliche Tiefe – womit das Dirigat letztlich perfekt zur Inszenierung passt.

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