Thielemanns «Meistersinger» in Salzburg: So klingt die Utopie des Humanen

An den Osterfestspielen dirigiert Christian Thielemann eine so poetische wie melancholisch verschattete Interpretation von Wagners Festoper. Sänger und Orchester glänzen, nur die Regie hat einen schweren Stand. Und am Horizont zieht weiteres Ungemach herauf.

Christian Wildhagen, Salzburg
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«Mit der Tafel ward ich fertig schier»: Beckmesser (Adrian Eröd, vorn) ist beim Gesangsvortrag von Stolzing (Klaus Florian Vogt, Mitte) mit seinem Künstler-Latein am Ende. (Bild: Ernst Wukits / OFS / PD)

«Mit der Tafel ward ich fertig schier»: Beckmesser (Adrian Eröd, vorn) ist beim Gesangsvortrag von Stolzing (Klaus Florian Vogt, Mitte) mit seinem Künstler-Latein am Ende. (Bild: Ernst Wukits / OFS / PD)

In der Generalpause öffnet sich ein Abgrund: «Wach. . . », singt der Chor wie aus einer Kehle; doch das erlösende «. . . auf!» folgt noch lange nicht. Stattdessen lässt uns der Dirigent Christian Thielemann für einige endlose Sekunden die Spannung eines kollektiv angehaltenen Atems spüren, auch das Publikum hält unwillkürlich die Luft an. Denn einen Augenblick lang hören wir – das Nichts. Kein Schwarzes Loch, aber immerhin ein «Gap» von gewaltigen Ausmassen, in dem sich die Magie, aber auch die Problematik von Aufführungen der «Meistersinger» sinnbildhaft verdichten.

Für geschichtssensible Menschen ist dieser «Wach auf!»-Chor auf der Festwiese nicht die einzige Stelle der Oper, die einem kalte Schauder über den Rücken jagen kann. Die nächste folgt, sobald der bedingungslos verehrte Hans Sachs die Maske des Volkspoeten fallen lässt und in seiner Schlussansprache von «welschem Tand» und der Überlegenheit der «heil’gen deutschen Kunst» zu schwadronieren beginnt. Das war immer schon so chauvinistisch gemeint, wie es klingt. Seit dem Missbrauch der «Meistersinger» als Festoper der «Reichsparteitage» wirkt es jedoch vollends unerträglich.

Freilich haben kluge Regisseure und Dramaturgen ebendiese Nähe zwischen Dichtern und Henkern, zwischen Schusterstuben-Innerlichkeit und völkischem Wahn, mittlerweile hundertfach reflektiert. Die problematische Rezeptionsgeschichte gehöre, so glaubte man, als Subtext längst unverrückbar zum Werk. Umso mehr war man jetzt erstaunt, dass Thielemann und der Regisseur Jens-Daniel Herzog bei den Osterfestspielen in Salzburg eine Neudeutung vorlegten, die ganz aus dem Stück selbst geboren schien – und dessen fragwürdige Seiten dezidiert unterbelichtet liess.

Unter der Ägide der Kunst

Selbstredend ist ein solcher immanenter Ansatz möglich und legitim. Er kann sogar helfen, Konstanten der modernen Rezeption, die wiederum selbst zu Klischees erstarrt sind – beispielsweise die Deutung Beckmessers als Judenkarikatur oder die Interpretation der sogenannten Prügelfuge im zweiten Finale als Andeutung eines Pogroms – in ihrer leicht wohlfeilen Formelhaftigkeit zu hinterfragen. In Salzburg geht der Impuls zur Besinnung aufs Ursprüngliche allerdings weniger von der harmlosen Inszenierung aus als vielmehr von der Musik.

Thielemann liebt, das spürt man, jeden Takt von Wagners Meister-Partitur. Dementsprechend betreibt er mit der Dresdner Staatskapelle eine Art Entdämonisierung des Klangs und der intendierten Wirkung. Bezeichnend deshalb, wie es weitergeht mit dem «Wach auf!»-Chor: Thielemann nimmt sich die Zeit, diese choralartige Vertonung von Originalversen des Schusterpoeten Hans Sachs zu einem Kleinod im Stück auszugestalten – mit endlos weit gezogenen Spannungsbögen, gewaltigen dynamischen Entwicklungen und einer überwältigenden Klimax auf der Vision der «rotbrünstige(n) Morgenröt’», die dann jedoch bei dem Nachsatz «die her durch die trüben Wolken geht» in einer nicht minder atemberaubenden Wendung ins Melancholische zurückgenommen wird.

Das ist unerhört poetisch gedacht und bezwingend gestaltet, und es entrückt diese missbrauchte Musik jedem Anhauch von kollektivem Massengebrüll, ohne eine Sekunde lang ihre Monumentalität zu leugnen. Auch im Leisen gelingt Thielemann immer wieder das Aussergewöhnliche, besonders eindringlich im zeitentrückten Wunder-Quintett des dritten Aufzugs, aber auch schon zuvor in den vielen punkt- und detailgenau entfalteten Dialogszenen. Die Botschaft dahinter ist klar: Dieses Nürnberg mit seinem bürgerlichen Singe-Kult ist eine Utopie – die Utopie eines humanen Gemeinwesens, in dem man durchaus streitet und einander handfest foppt; in dem man aber unter der Ägide der Kunst am Ende auch wieder zueinanderfindet.

Das ist recht nah am Kern von Wagners ursprünglichem Werkkonzept und keineswegs naiv. Thielemann verfügt obendrein über die Sänger, um einen derart dialog- und textzentrierten Ansatz Bühnenwirklichkeit werden zu lassen. Allen voran der souveräne Georg Zeppenfeld, der sich mit seinem Rollendebüt als Sachs sogleich in die erste Reihe der heutigen Interpreten katapultiert. Sein Schuster ist kein Volkstribun, eher ein intellektueller Zweifler, der angesichts der eigenen hoffnungslosen Liebe zu Eva (Jacquelyn Wagner) durchaus um die Fehlbarkeit des Menschen weiss. Wahrlich meisterhaft ist die Genauigkeit, mit der Zeppenfeld dies aus einer natürlichen Einheit von gesungenem Text und Musik entwickelt.

Zu Höhepunkten der Aufführung werden die Auseinandersetzungen mit dem ähnlich vielschichtigen Beckmesser von Adrian Eröd, der hier nicht so sehr an seiner Pedanterie als Kritikaster scheitert wie an der ihn zermürbenden Abneigung Evas, deren Herz unverrückbar einem anderen gehört. Klaus Florian Vogt gibt diesem anderen, der gleichsam von aussen in die Gemeinschaft dringt, leicht ironisch-anachronistische Züge: Offenbar ist dieser Walther von Stolzing, der sich zum Künstler berufen fühlt, von jeher das schwarze Schaf seines untergegangenen Ritterclans. Vogt bewältigt seine riesige Partie – wie alle anderen Protagonisten – textklar und fast ohne hörbare Einbrüche, was angesichts der sehr langsamen Tempi eine umso beachtlichere Leistung darstellt.

Anlass zur Melancholie?

Diese Tempi geben einerseits der intimen Poesie von Thielemanns Lesart Raum; sie legen sich aber stellenweise auch mit bleischwerer Melancholie über die fast sechsstündige Aufführung. Die Regie, die in einem Spiel im Spiel die Geschehnisse hinter den Kulissen während einer «Meistersinger»-Aufführung an der Nürnberger Staatsoper zeigen will, kommt weder mit dieser angedeuteten Doppelbödigkeit noch mit ihren humoristischen Einfällen gegen Thielemanns dirigentische Partitur- und Selbstbefragung an.

In den Pausen hört man denn auch Mutmassungen, diese Aufführungen könnten insgeheim dessen Abschiedsvorstellungen in Salzburg sein. Völlig ausgeschlossen scheint das nicht: Hat Thielemann doch deutlich gemacht, dass er mit dem von der Politik berufenen Nachfolger für den 2020 scheidenden Intendanten Peter Ruzicka nicht zusammenarbeiten werde – die Differenzen mit dem Münchner Staatsintendanten Nikolaus Bachler seien unüberbrückbar. Ob Bachler wirklich, wie es die Gerüchteküche wissen will, nach einem möglichen Ausscheiden Thielemanns und der Staatskapelle im Gegenzug die Berliner Philharmoniker mit ihrem künftigen Chef Kirill Petrenko zurück an die Salzach holen könnte, ist offen. So oder so wird die Sache nicht ohne Blessuren ablaufen. Das gibt ohne Frage Anlass für ein bisschen Melancholie.

Osterfestspiele 2020

wdh. · Für die Osterfestspiele 2020, die letzte Saison unter der gemeinsamen Leitung von Christian Thielemann und Peter Ruzicka, ist unter anderem die Neuproduktion von Verdis «Don Carlo» in der vieraktigen italienischen Fassung mit einem neu komponierten Prolog von Manfred Trojahn vorgesehen. Er trägt den Titel «Blick – Traum – Übergang» und soll den Fontainebleau-Akt aus der fünfaktigen französischen Fassung der Oper ersetzen. Die Regie liegt – nach ihrer «Walküre»-Rekonstruktion von 2017 – ein weiteres Mal in Händen von Vera Nemirova. Die Solistenbesetzung wird angeführt von Ildar Abdrazakov als Filippo II und dem Netrebko-Gatten Yusif Eyvazov in der Titelrolle; Anja Harteros kehrt nach ihrer Tosca im Vorjahr als Elisabetta zurück, Ekaterina Semenchuk wird als Eboli zu erleben sein.

Peter Ruzicka dirigiert selbst die Uraufführung der postum eingerichteten Kammeroper «La piccola Cubana» von Hans Werner Henze und Hans Magnus Enzensberger. Auch mit Daniel Hardings Aufführung der nachgelassenen 10. Sinfonie von Gustav Mahler in der Konzertfassung von Deryck Cooke verfolgt Ruzicka zum Abschied von Salzburg eines seiner langjährigen Herzensprojekte. Christian Thielemann wird neben der «Don Carlo»-Premiere ein Konzert zum Beethoven-Jubiläum mit der Staatskapelle Dresden und der Geigerin Janine Jansen leiten, die den Karajan-Preis 2020 erhält. Ausserdem dirigiert er ein Chorkonzert mit Arnold Schönbergs gewaltigen «Gurre-Liedern».

Mehr von Christian Wildhagen (wdh)

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