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Boris Godunow. Ernesto Morillo (Boris Godunow). Foto: Steffen Gottschling
Boris Godunow. Ernesto Morillo (Boris Godunow). Foto: Steffen Gottschling
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Dann schrei‘n wir eben dort! – Modest Mussorgskys „Boris Godunow“ am Theater Lübeck

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Ein kleines Opernhaus wie das in Lübeck kann manches nicht allein stemmen. Kooperation, nichts Ehrenrühriges, ist angesagt, will es seinem Publikum das Außergewöhnliche bieten, wie es zum Beispiel Modest Mussorgskys „Boris Godunow“ ist, das stimmgewaltige und szenisch aufwändige Epos aus dem alten Russland und die Genietat eines Autodidakten. Diesmal halfen das Staatstheater Nürnberg und die GöteborgsOperan, um auch in Lübeck (Premiere: 25. Januar 2019) nach Jahrzehnten einmal wieder der Frage nachzugehen, hat Boris nun oder hat er nicht den Zarewitsch gemordet.

Keine Love-Story

Das Regiekonzept dazu lieferte, für alle drei Bühnen gleich, kein geringerer als Peter Konwitschny, der zuletzt 2018 als Regisseur des Jahres (Opernwelt) ausgezeichnet wurde. Er hatte vor knapp drei Jahren an der Trave schon einmal für Furore gesorgt, als er Macht und Machtgebaren von Herrschenden hinterfragte und in kindisches Getue wandelte. Verdis „Attila“, ein anderer Bühnenheld aus der historischen Despotengarde, diente ihm damals als Modell. Nur ähnlich ist der Fall „Boris Godunow“. Den im Drama notwendigen Konflikt entwickelt Konwitschny aus dem Gegensatz zwischen der Hauptfigur, die sich das Volk wegen versprochener Wohltaten als Zar wünscht, und einer Gegenpartei, die in Boris einen Kindsmörder sehen will und kritiklos Gegenkandidaten in Szene setzt. Das Spiel ist verwirrend, weil keine Seite wirkliche Argumente bringt, und soll hier auch nicht aufgedröselt werden. Das will auch die Regie nicht. Sie macht stattdessen auf die unterschiedlichsten Interessen aufmerksam, auf die der Bojaren, die um ihre Macht bangen, auf die Mönche, die ihre Geheimnisse verteidigen oder auf die des Volkes, das nur eines will, gut leben.

Der Oper fehlt im Gegensatz zu „Attila“ allerdings vor allem ein handlungstragendes, zugleich bewegendes Element, die Liebe, die in der italienischen Oper so schön besungen wird. Aber das liegt daran, dass Konwitschny – gut begründet – seine Bühnenschau aus der ersten, der ursprünglichen Fassung der Oper von 1869 entwickelt hat. Deren Musik ist ungewöhnlich, und das nicht nur aus historischer Sicht. Sie nimmt gefangen, passt erstaunlich gut zur holzschnittartigen Handlung. Und wenn sie dann noch adäquat gestaltet wird wie in Lübeck, kann sie all ihre Eigenart entwickeln. Dieser Fassung wird heute vielerorts Respekt gezollt, denn sie ist noch frei von allen Zutaten, den Opernbetrieb und Publikum vermeintlich wünsch(t)en, vor allem aber frei von Rimski-Korsakows glättender Instrumentation.  

Varianten

An drei Orten also Gleiches? Nein, zumindest in Lübeck nicht, wo nicht nur das Personal ausgetauscht und neu einstudiert wurde. Erstmalig nutzt Konwitschny eine andere Bühnensprache. In Nürnberg (Oktober 2016) und Göteborg (April 2018) wurde wie im Original russisch gesungen, während für Lübeck eine Übersetzung der Theaterwissenschaftler Bettina Bartz und Werner Hintze entstand. Beide arbeiten schon jahrelang mit Konwitschny zusammen, so dass ihr Libretto die Regie hautnah unterstützt. Die Landessprache zu nutzen hat für den Operngänger zwei, nach Worten des Regisseurs „gewollte“ Nebeneffekte. Zum einen erleichtert es das Mitgehen, weil die Augen nicht ständig zwischen Übertitelungsanlage und Bühne hin- und herspringen müssen, vieles daher ad hoc verständlich ist. Zum anderen ist es ein Anliegen des Regisseurs, die Mitwirkenden zu größtmöglicher Textverständlichkeit zu animieren, was sich besonders in Massenszenen auszahlte, sicher auch darin, dass die Agierenden sich immer des Gesagten bewusst waren. Drastisch erlebbar war das etwa, wenn das Volk, von der Staatsgewalt für den nächsten Tag zum Jubeln in den Kreml bestellt, lakonisch kontert: „Dann schrei‘n wir eben dort.“ Ihm ist „ja alles egal“, wichtig allein die Wahlgeschenke.

Das Grundkonzept der Oper blieb. Das Volk auf der Bühne saß (wie das im Zuschauerraum) in einem Kaperltheater. Die Puppen standen für die derben Charaktere der Machthabenden oder ihrer Vasallen, per Hand vorgeführt von den Sängern. Als Typen waren der Polizist (Tim Stolpe) dabei, der arglistige Fürst Schuiski (Alexander James Edwards) und der Geheimschreiber Schtschelkalow (Steffen Kubach). Selbst die Schlange kam, die falschen Lobsänger zu fressen. Lebendig und sorgfältig gestaltet waren dazu die Massenszenen. Es war ein abgerissenes, willenloses Volk, dem Konsum ergeben und im Wodkarausch. Mit zunehmendem Wohlstand wandelt der sich zum Kaufrausch. Die Kritik an den Machtstrukturen weitete sich so zur Gesellschaftskritik.

Bildhaftes

Drastische Bilder fand der Regisseur. Physisch setzte er die Geschichtsklitterung durch Pimen (Dennis Velev) in Szene, wenn der seine Sicht auf die Taten von Boris den Mönchspartisanen in die Haut ritzt. Äußerst lebendig, dabei mit feinen Anspielungen auf Vorheriges in Bühnenbau und Kostümen (Timo Dentler und Okarina Peter) war die Szene im Wirtshaus mit den militanten Mönchen Warlaam und Missaïl (Minhong An und Hojong Song) sowie der Schenkwirtin (Julia Grote) und dem Zarenverschnitt Grigori (Tobias Hächler). Der Palast, in dem Boris (Taras Konoshchenko) samt Kindern (Evmorfia Metaxaki und Iuliia Tarasova) und Amme (noch einmal Julia Grote) lebt, wirkte so ausdruckslos wie prahlerisch. Sinnstrotzend präsentierte sich die Finalszene mit der golden gekleideten Volksmasse und ihren Einkaufstaschen vor der (Hüpf)Burg, dazu kontrastiv der Gottesnarr (Hojong Song) mit Einkaufswagen wie ein Asozialer. Grotesk zeichnete das aufgeblasene Gebilde die wacklige Existenz der Bojaren. Mit dem Schluss, Boris verschwindet in Ferienkluft im Orchestergraben, hat sich die Regie etwas Besonderes einfallen lassen. Sie entlässt das Publikum mit einem Fragezeichen im Gesicht.

Musik

Schwer zwar für die Größe eines Ensembles wie das in Lübeck war die große Anzahl der Rollen zu besetzen, gesanglich und spielerisch dennoch mit wenigen Gästen bemerkenswert gut. Die oben Genannten sind die Sänger der zweiten Aufführung (2. Februar), die der erste Kapellmeister Manfred Hermann Lehner dirigierte. Überzeugend war, wie er Bühne und das klangvolle Orchester zusammenhielt, sogar überraschend dezent begleitete, nie überdeckte. Jan-Michael Krüger hatte den verstärkten Chor einstudiert und Gudrun Schröder den Kinder- und Jugendchor Vocalino.

Die Inszenierung hatte überzeugt. Langer Beifall bewies das.

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