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Spricht von den Verwehungen der Musik. Martina Gedeck als Tanja.

© Monika Rittershaus/Staatsoper Unter den Linden

"Violetter Schnee" an der Staatsoper: Unter fremder Sonne

Wachheit am Rande der Katastrophe: Die Berliner Staatsoper zeigt die Uraufführung „Violetter Schnee“ von Beat Furrer und Händl Klaus.

Die Dunkelheit verströmt ihren eigenen Geruch. Er breitet sich im Zuschauerraum der Staatsoper aus, noch bevor das Saallicht erloschen ist, und erinnert an frisch lackierte Fensterrahmen und erkaltete Winterkohleöfen. Der Duft entsteigt Hunderten von Programmbüchern, deren erstes Drittel aus überwiegend schwarz bedruckten Seiten besteht. Die Finger riechen nach dem Blättern ein bisschen nach Räucherspeck. Es sind letzte Reminiszenzen an Sesshaftigkeit, bevor der Komponist Beat Furrer mit seiner Oper „Violetter Schnee“ sein Publikum in einen nicht enden wollenden Winter entführt.

Fünf Personen versuchen, der ständig steigenden psychischen wie physischen Last des ununterbrochenen Schneefalls zu widerstehen. Von Anfang an besteht nur wenig Anlass zur Hoffnung, dass Silvia, Natascha, Jan, Peter und Jacques diese Extremsituation überleben werden. Schon die ersten Takte von Furrers Musik klingen nach einem Fanal, nach haltlosen Stürzen und zerscherbendem Aufprall, nach einem Glucksen tief unter einem gefrorenen See und auch einem gellenden Lachen, das nicht von dieser Welt ist.

Bruegels berühmtes Gemälde "Jäger im Schnee" prägt die Bühne

Ein Bild prägt dieses Auftragswerk der Staatsoper Unter den Linden, es birgt eine der berühmtesten Winteransichten der Kunstgeschichte. „Die Jäger im Schnee“ von Pieter Bruegel ist ein grüngraues Tableau sich langsam enthüllenden Grauens. Denn die Idylle mit ihren Wintersportlichkeiten auf dem erstarrten Wasser trügt. Die Jäger kehren praktisch ohne Beute heim, ein Kaminbrand bedroht ein Haus, ein anderes könnte aus Nachlässigkeit jederzeit Raub der Flammen werden. Der Segen über dem Gasthaus hängt sichtbar schief, eine Vogelfalle kündigt dem wissenden Betrachter an, dass das Jüngste Gericht jederzeit beginnen könnte. „Die Jäger im Schnee“, entstanden in der Kleinen Eiszeit des Mittelalters, künden von der Apokalypse. Und sie tauchen dort wieder auf, wo der Mensch alle Gewissheit verliert, in Lars von Triers „Melancholia“ oder Andrei Tarkowskis „Solaris“.

Auch Beat Furrer, den österreichischen Komponisten mit Schweizer Wurzeln, reizte der Blick über den Planeten Solaris und sein unergründliches Plasmameer. Bereits 2010 traf er sich in Berlin mit Wladimir Sorokin, der der Idee, dem absolut Fremden zu begegnen, eine andere Gestalt gab. In seinem Entwurf ist es der Schneefall, der eine Gruppe in einem Haus festhält. Während sie gegen die Kältekrise anplaudern, werden sie schutzloser denn je, bis plötzlich eine fremde Sonne aufgeht und den Schnee violett leuchten lässt. Die Abkehr vom direkten „Solaris“-Bezug war auch strategisch sinnvoll, denn im Opernorbit kreist hoch über Berlin noch immer Detlev Glanerts Oper nach dem Stanisław-Lem-Roman, die eigentlich schon 2013 an der koproduzierenden Komischen Oper hätte landen sollen. Sorokins Text muss verschlungen und sicher auch von seinem beißenden Surrealismus gegerbt gewesen sein, jedenfalls kam er als Librettist nicht zum Zug. Das Uraufführungsteam mit Furrer, dem Dichter Händl Klaus und Regisseur Claus Guth legte sich auf Bruegel fest, die Staatsoper machte „Jäger im Schnee“ gleich zum Cover ihres Saisonprogramms.

Martina Gedeck spricht leicht stotternd zu den Verwehungen der Musik

Spricht von den Verwehungen der Musik. Martina Gedeck als Tanja.
Spricht von den Verwehungen der Musik. Martina Gedeck als Tanja.

© Monika Rittershaus/Staatsoper Unter den Linden

„Violetter Schnee“ setzt ein mit der Beschreibung des Gemäldes durch Martina Gedeck, die leicht stotternd auf die Verwehungen der Musik spricht. Kälte und Hunger dringen durch ihre Silben und enthüllen eine seltsam entrückte Erzählperspektive. Es ist die eines Vogels. Natürlich sieht er die Falle. Die Szene spielt im Kunsthistorischen Museum in Wien, wo Bruegels Werk hängt. Gedecks Figur heißt Tanja und ist überraschenderweise barfuß. Überhaupt scheint sie den übrigen Menschen unsichtbar, bis auf Jacques, der ihre Gegenwart spürt. Es könnte sich, wie in „Solaris“, um seine tote Frau handeln.

Vielleicht ist Jacques auch deshalb der Fatalist der Gruppe, die sich bald um die letzten Flammen im Kamin versammelt, Tee aus Schnee, Tannennadeln und Baumrinde trinkt und abzuwarten versucht – auf ein Ende dessen, was im Bild wie im Libretto allgegenwärtig ist. Mindestens 70 Mal wird das Wort „Schnee“ wiederholt, beschworen. Es hilft aber nichts, das Gestöber wird immer undurchdringlicher.

Um zu komponieren, zog sich Beat Furrer in ein altes Forsthaus im steierischen Nationalpark Gesäuse zurück. Dort hat es im Winter auch mächtig Schnee. In seiner mittlerweile achten Oper perfektioniert der Erkunder von Einsamkeits- und Extremszenarien („Wüstenbuch“, 2010) seine Technik, instrumentale und vokale Klänge miteinander zu verschmelzen. Als Furrer, Jahrgang 1954, im vergangenen Jahr für sein Lebenswerk den Ernst- von-Siemens-Preis erhielt, den sogenannten Nobelpreis der Musik, behaupteten abermals Stimmen, er habe sich allzu großzügig bei seinem älteren Kollegen Salvatore Sciarrino bedient. Man kann das angesichts der souveränen Virtuosität von „Violetter Schnee“ nur als Querschuss von Neidern werten. Furrers klanglicher Reichtum verblüfft, das Vocalconsort Berlin und die Staatskapelle agieren wie ein einziger Klangkörper, der vom Orgelbrausen bis zum mikrotonalen Schweben blitzschnell jede erdenkliche Abtönung aufbieten kann. Mit Matthias Pintscher steht ein Komponistenkollege am Dirigentenpult, der die Klangsinnlichkeit dieser Musik zu betonen weiß und gerne auch mal in die Vollen geht. Die Solistenriege wird herausragend angeführt von Anna Prohaska und Georg Nigl und beherzt komplettiert durch Elsa Dreisig, Gyula Orendt und Otto Katzameier.

Der Abend ächzt unter der Bilderlast

Dennoch ächzt der gut 100-minütige Abend – nicht unter der Schnee-, sondern unter der Bilderlast. Claus Guth, der zum Uraufführungsteam stieß, bevor die erste Note geschrieben war, muss sich viel Gedanken darüber gemacht haben, wie „Violetter Schnee“ zu einem echten Augenpulver werden kann. Der Regisseur verwandelt die gewollt statische Situation, die langsam ins Kippen gerät, in eine hochgerüstete Bühnenodyssee. Vom Museum geht es ins Apartment, von dort zurück ins zerstörte Museum, durchs Treppenhaus zurück ins Apartment, schließlich auf eine Straße ins Nichts. Zwischendurch begegnen den Eingeschneiten pittoresk abgestellte Menschen im Treppenhaus, während durch den verheerten Museumsbau die gebeugten Gestalten aus Bruegels Bild schleichen. Die Unterbühnenmaschinerie fährt Überstunden und funktioniert einwandfrei, Videowischblenden zaubern immer neue schwarzgraue Vordergründe ohne jeden Horizont herbei.

Guths Bildungsbürgerbildkanone feuert pausenlos und verschiebt damit letztlich den gesamten Aufmerksamkeitsfokus. Dass Silvia, Natascha, Jan, Peter und Jacques immer wieder zusammensinken, scheint weniger der zunehmenden Unterkühlung und der wachsenden Erkenntnis eines radikalen Umbruchs geschuldet, sondern der Müdigkeit im Angesicht des ständigen Pixelbeschusses. Der Schnee entpuppt sich als Bildrauschen, die Katastrophe erhält ihre Ausgestaltung im permanenten visuellen Zugeschüttetwerden. Wer wir sind, was wir waren – fortgespült mit der Bilderflut. Das ist, obwohl handwerklich und ästhetisch von hoher Qualität, das Gegenteil von dem, was Furrers Musik vermitteln will. Eine Bewusstseinsschärfung, die Wachheit am Rande der Katastrophe, sie bleibt Unter den Linden aus. Sie wäre dringend nötig. Weitere Aufführungen am 16., 24., 26. und 31. Januar

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