Berlin. Bei der Uraufführung von Beat Furrers „Violetter Schnee“ an der Staatsoper ist der Applaus groß und einhellig.

Auf den ersten Blick wirkt das Gemälde „Jäger im Schnee“ von Pieter Bruegel dem Älteren wie ein friedliches Winterbild mit schneebedeckten Häusern und Schlittschuhläufern. Erst wenn man näher hinsieht, erkennt man, dass ein Brand gelöscht werden muss, ein Mensch auf dem Eis gestürzt ist, und die Jäger nur magere Beute nach Hause bringen. Eine trügerische Idylle. Das Bild spielt eine zentrale Rolle in Beat Furrers neuer Oper „Violetter Schnee“.

Im Prolog in der Staatsoper steht die Schauspielerin Martina Gedeck im Museum und klärt uns über das Bild auf. Sie spricht nicht wie eine Museumsführerin, sondern wie ein ängstlicher Vogel, der in dem Gemälde auf einem Baum sitzt und seine Umgebung beschreibt. Der verstörte Bericht gerät immer wieder ins Stocken. Das Gemälde bleibt als Mahnmal und Leitmotiv die ganze Uraufführung hindurch präsent. Details aus dem Bild erscheinen mehr oder weniger abstrakt auf einer transparenten Videoleinwand, oder Jäger aus dem Gemälde laufen als Statisten durch die Szene. Der Regisseur Claus Guth überträgt die Bedeutung des Bildes auch auf andere Szenen.

In der ersten Episode sehen wir Menschen, die in einem aufgeräumten Haus an einem schicken Kamin sitzen. Auch hier ist die Idylle trügerisch. Die Bewohner verheizen gerade den letzten Tisch und haben außer Tannennadelsuppe nichts mehr zu essen. Sie warten darauf, dass das verrückte Schneetreiben draußen endlich aufhört. Das wirkt erst einmal wie eine hochaktuelle Oper über die Unwettersituation in Bayern und Österreich, die jeden Tag in den Nachrichten geschildert wird. Doch es kommt viel schlimmer. Der Kamin, die Straßenlaterne, das Lagerfeuer – alles wird erlöschen. Am Ende steht eine kosmische Kata­strophe. Mond und Mars stehen nicht mehr an den gewohnten Himmelsstellen, und die Sonne lässt den Schnee violett glänzen.

Reizvolle Übergänge zwischen Sprechen und Singen

Den österreichischen Komponisten Beat Furrer hat die Idee fasziniert, dass etwas Vertrautes wie die Sonne plötzlich fremd wird. In seiner achten Oper hat er zum ersten Mal einen durchgehenden Text als Libretto verwendet. Sonst gab es in seinen Opern immer Texte verschiedener Autoren aus unterschiedlichen Zeiten, die einander interpretierten und überlagerten wie Palimpseste. Diesmal hat der Österreicher Händl Klaus ein rundes, stimmiges Libretto nach einer Vorlage des russischen Schriftstellers Vladimir Sorokin verfasst.

„Violetter Schnee“ ist Beat Furrers zweite Oper für ein groß besetztes Orchester, und er geht beeindruckend damit um. Am Anfang stehen kurze Gesten, die atemlos nach oben driften und immer wieder abbrechen, als müssten sie kurz nach Luft schnappen. Doch das Tempo verlangsamt sich, die Musik friert langsam ein, bis nur noch Klangflächen übrig bleiben, die glitzern wie Eis. Die eingefrorene Zeit in Bruegels Gemälde hat ihn inspiriert. Seine ganze Oper ist geprägt von lang stehenden Klängen, die niemals langweilig werden, weil der Komponist ihnen mit großer Klangfantasie ein ständig wechselndes Innenleben gibt. Furrers Musik zelebriert die Langsamkeit herb und eindringlich. Sie besitzt eine Suggestivkraft, die zum Zuhören zwingt. Man hört nicht einfach, man lauscht. Auch weil die Musik nur selten laut wird. Die leisen, magischen Klänge kommen auch den Sängern entgegen, die niemals laut werden müssen, um sich über das Orchester zu erheben. Manchmal singen sie auch abwechselnd mit dem Orchester.

In Furrers Opern wird meistens nicht nur gesungen, sondern auch gesprochen. In „Violetter Schnee“ sind die Übergänge zwischen Singen und Sprechen reizvoll ausgestaltet. Zentral ist die Begegnung zwischen der Schauspielerin und einem Bariton, der um einzelne Zentraltöne herum singt und so eine Brücke schlägt, während im Orchester Gesten erklingen, die Tanjas Sprache vergrößern. Auch ein neues „Instrument“ hat der Komponist für seinen Zweck erfunden: Der Schlagwerker schrabbt langsam mit Steinen über Kacheln und erzeugt damit die Illusion von Vokalen: a e i o u.

Protagonisten glänzen vor allem als Teamspieler

Der Applaus am Ende ist für alle Beteiligten groß und einhellig. Die sechs Protagonisten glänzen vor allem als Teamspieler, die die unterschiedlichen Reaktionen auf die Ausnahmesituation glaubhaft machen. Peter (Georg Nigl) ist bedrückt, während Jan (Gyula Orendt) versucht, optimistisch zu bleiben. Otto Katzameier gibt überzeugend den wortkargen Außenseiter. Den stärksten Eindruck macht die Frauenriege. Vor allem Anna Prohaska setzt sich für den Weltuntergang ausdrucksmächtig in Szene. Elsa Dreisig beeindruckt mit ihrer Vielseitigkeit, mit mühelosen Übergängen zwischen Sprechen, tiefen und hohen Tönen. Martina Gedeck geistert wie ein Orakel über die Bühne. Die Staatskapelle fühlt sich unter der Leitung von Matthias Pintscher famos in die subtilen Klanglandschaften ein. Das Vocalconsort Berlin setzt am Ende wundersame Lichtschimmer.

Der Regisseur Claus Guth versteht es, aus den ersten scheinheilen Szenen am Kamin und Lagerfeuer Stück für Stück das Heimelige, Vertraute zu entfernen, bis nur noch blankes Entsetzen übrig bleibt. Es gibt viele Themen in dieser Oper. Schnell kann es gehen, dass man selbst zum Flüchtling wird. Die Figuren reden aneinander vorbei, obwohl es so viele soziale Medien gibt. Vor allem gibt es eine Bedrohung von außen, die man nicht kontrollieren kann. In einer politisch instabilen, globalisierten und digitalisierten Welt wird das vielen bekannt vorkommen.

Am Ende steht eine große, nie da gewesene Veränderung. Was das bedeutet? Vielleicht steht der Weltuntergang bevor. Oder ein wundersamer Neubeginn.

Staatsoper, Unter den Linden 3, Mitte. Kartentel.: 20 35 45 55. Nächste Termine: 16., 24. 26. u. 31. Januar, je 19.30 Uhr.