Märchen der Gebrüder Grimm können so unerwartet grausam sein: Hänsel und Gretel werden von der bösen Stiefmutter ausgesetzt und sollen im finsteren Wald zu Tode kommen; dort hält eine Schrecken verbreitende Hexe Kinder gefangen, treibt gar Kannibalismus. Auswüchse sozialer Not als Stoff einer Märchenoper?

Zusammen mit seiner Schwester Adelheid Wette schrieb Engelbert Humperdinck das Märchenspiel Hänsel und Gretel zunächst für eine private Aufführung in der Familie, ließ dabei die böse Stiefmutter zu einer liebenden, mit der Armutssituation psychisch überforderten Mutter werden, die die Kinder zum Beerensammeln schickt, um den Reisbrei versüßen zu können. Später erweiterte er diese Fassung, fand dafür sogar Bewunderung bei Richard Strauss, der sich 1893 anbot, die Uraufführung des Werks in Weimar zu dirigieren. Humperdinck hatte zeitweise als Wagners Sekretär gearbeitet und war mit dessen Musik ebenso vertraut wie mit den Hörnerszenen in Mendelssohns Sommernachtstraum oder Berlioz' Hexensabbats einer Symphonie fantastique. In seinem eigenen Stil fand er einen Übergang von Wagners mythologischen Stoffen zu Märchenspielen, vom großsymphonischen Zuschnitt zu kantablen Volkslied-basierten Melodien.

Andreas Baesler geht in seinem Regiekonzept für das Staatstheater Nürnberg auf diese Wurzeln des Opernstoffs zurück und verlegt die Handlung aus dem Hexenwald in die bürgerliche Welt des 19. Jahrhunderts in einer herrschaftlichen Wohnung, in der man mit schickem Gehrock und lang wallendem Rüschenkleid (in Gabriele Heimanns stimmiger Kostümierung) vornehm gewandet umgeht und sogar die Dienste einer Kinderfrau in Anspruch nimmt. Edles Holzfurnier, hohe Fenster, roter Brokatsessel, Kamin und Kuckucksuhr (im noblen Bühnenbild von Harald B. Thor) zeugen von ehemaligem Reichtum, dessen Requisiten bereits in der Ouvertüre in stummem Spiel vom Gerichtsvollzieher abgeholt werden: matte Flecke bleiben an den Wänden, wo vorher Ahnenportraits hingen; Schmuck und Uhren der Ehefrau müssen die Schuldenlast mildern. Voller Sorgen und mit schwerem Schritt ist Peter, der Hausherr, auf dem Weg zu seinem Geschäft, das eben gerade nicht gut läuft.

Wie Peter im Original als Besenbinder jobbt und ob seine Einkünfte auf Festen und Kirmessen das bürgerliche Familienwesen wirklich finanzieren könnten, bleiben offene Fragen in dieser Märchenfassung. Erst recht wenn Peter in Schlips und Kragen einen Teil der Tageseinnahmen in der Kneipe vertrunken hat und polternd und trällernd mit dem Rest gerade noch ein paar Würste, Eier und Kaffee kaufen kann. Durchaus eingängiger wird der Handlungsfaden, wenn den beiden Kindern die Geschichte aus dem Märchenbuch der Gebrüder Grimm im trauten Familienkreis vorgelesen wird und die Erlebnisse von kühler Waldfinsternis, beruhigender Sandmännchen-Vision und schauriger Hexenmagie in ihrer spielerischen Fantasie und bewegten Traumbildern entstehen, sogar in den freilich wie im Kaleidoskop verschobenen heimischen Wänden der elterlichen Wohnung.

Irina Maltseva (Hänsel) und Julia Grüter (Gretel) gelang es in ihrem putzmunter kindhaften Spielspaß herrlich, Ängste und Glücksseligkeiten des Geschwisterpaars in der träumerischen Illusion mit liebevoller und detailgenauer Feinzeichnung darzustellen und sich so fühlbar in die Herzen auch des jungen Premierenpublikums zu singen. Sie gestalteten ihre Titelrollen stimmlich mit frischer Strahlkraft, dass die Meisterwerke kindlichen Liedguts wie Brüderchen komm tanz mit mir, Suse liebe Suse oder Ein Männlein steht im Walde (in angeregtem Dialog mit fabelhafter Soloflöte) unbekümmert daherkamen und nie zu betulichem Arienklischee wurden. Emily Newton stellte als Gertrud die verzweifelte, oft unausgeglichene Mutter heraus, legte (fast zu) viel Dramatik in ihre unerbittliche Einforderung von Gehorsam der Kinder. Weicher und versöhnlich, ja großzügig und optimistisch kam Jochen Kupfers Vaterrolle, sprach aus seinem warm wohltönenden Bariton der liebevolle und ausgleichende Pol der Familie.

In der zauberhaften Illusion rückt der Wald noch weiter ins Kinderzimmer, vermischt sich immer mehr mit silbrig glänzenden Weihnachtsbäumen. Das Sandmännchen (Nayun Lea Kim mit glockenreiner Stimme) sang die Kinder in den Schlaf; dass im Traum an Stelle der vierzehn Engel sich ausgerechnet eine weiß gekalkte figurgewordene Ahnengalerie um die Geschwister versammelt, mag manche Kinderfantasie im Parkett enttäuscht haben.

Viel besser passt da auf dem Wohnzimmertisch das handliche Lebkuchenhaus, an dem Hänsel und Gretel bereits eifrig genascht hatten, in den Handlungsstrang. Und dass aus der bis dahin stumm-strengen Haushälterin im Traum die Hexe Rosine Leckermaul wird, welche die bisher ausgeübten Erziehungsmaßnahmen noch einmal kräftig steigert. Almerija Delic füllte die Figur der Knusperhexe ausdrucksstark und mit stimmstarkem Mezzo optimal aus, ließ in diabolischer Schadenfreude bei der Aufzählung der Liste der Grausamkeiten ihr Hokus Pokus erklingen und entschwand am Ende auf einem von Peters Besen reitend im Bühnenhimmel. Gretel hatte sie ins Feuer des elterlichen Kamins gestoßen, der mit viel Theaternebel explodierte und Dutzende weiterer Kinder freigab, die bereits Opfer ihrer Zaubersprüche geworden waren.

Ein warmherzig versöhnendes Schlussbild mit diesen Kindern, denen der Jugendchor des Nürnberger Lehrergesangvereins einen zart tönenden Schlussakkord gab. Guido Johannes Rumstadt hatte die Philharmoniker des Staatstheaters beherzt aufspielen lassen und differenziert feine Cellokantilenen herausgehoben, finster kalte Waldstimmungen und dämonisch-stampfende Rhythmen wie aus der Holländer-Ballade gefordert ebenso wie romantischen Schmelz der Geigen und süße Melodienseligkeit der Holzbläser entfacht.

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