Ein König verliebt sich in einen Baum. Dann wieder in eine Frau. Aber nicht in die, die ihn liebt. Die Frau, in die er sich verliebt, liebt seinen Bruder. So wie die Schwester der Frau. Der König schickt den Diener mit einem Liebesbrief. Der landet bei der falschen Adressatin. Das ist schon immer gefährlich gewesen für die Beteiligten. Alles klar?

Es gibt große klassische Kompositionen, aus denen nur eine einzige Melodie sprichwörtlich um die Welt geht, das Originalwerk in den Schatten stellt. Dies geschah auch im Fall von Händels Oper Serse (oder zu deutsch "Xerxes"). Schon zu Händels Zeiten kam der Typus der Opera Seria mit seiner fest gefügten Rezitativ-Arien-Struktur aus der Mode, und auch Serse wurde nach wenigen Aufführungen in London vom Spielplan abgesetzt. Dabei hatte Händel schon viele dieser Konventionen gebrochen: die Arien sind kürzer, liedhafter, tänzerischer als in früheren Opern. Eine einzige Arie, gleich zu Beginn und als "Largo" bekannt, gelangte ins Repertoire von Salon- und Tanzmusikern, ja sogar von Beerdigungs-Musiken. Die ganze Oper einer etwas verwirrenden Geschichte des Perserkönigs Xerxes – nach heutiger Sicht eines der faszinierendsten Stücke aus Händels Feder – wurde erst 1924 bei den Göttinger Händelfestspielen richtig wiederentdeckt.

Über gute Kontakte zu französischen Opernhäusern hatte Nürnbergs Intendant Jens-Daniel Herzog die Regiearbeit an Jean-Philippe Clarac und Olivier Deloeuil, Leiter der Gruppe „le lab“ übertragen, die, 2009 in Bordeaux gegründet, interdisziplinäre Kunstereignisse großer Opern- und Theaterbühnen betreut. Ihr Team aus Designern, Videokünstlern, Lichtkünstlern und Grafikern will die Zuschauer in den Bann einer lebendig zeitgenössischen, politischen Handlung ziehen.

Auch das Nürnberger Xerxes-Projekt versteht sich als Installation für einen einzigartigen Ort: nicht im Königshaus am fernen Hellespont, sondern in die Skaterszene am Nürnberger Kornmarkt wird die Handlung verortet, in einer befahrbaren Halfpipe werden Besitzansprüche ausgetragen, geradezu artistische Skate-Runs symbolisieren das Auf und Ab von Gefühlen zeitgenössischer Teens und Twens. Aufreißer wie Introvertierte, elegant oder im supermodischen Look kreuzen sich rasant in ihren Rides. Videoprojektionen von Skaterslogans, riskanten Sprüngen und Stürzen sowie amüsante Kamerafahrten mit einem giftgrün bereiften roboterartigen Board zwischen Nürnbergs City und dem Opernhaus treten im Einheitsbühnenbild an Stelle klassischer Kulissenverschiebungen. Und anstatt dem antiken Chor die Kommentierung der Gefühlsverwirrungen zu überlassen, sprechen die Skater-Boys in (manchmal zu langen) Videosequenzen absolut authentisch über ihre Sicht zu Romantik, Look und Liebe, Sehnsüchte und Träume. Über so viel ungekünstelte Ehrlichkeit auf ewige Fragen nach Liebe und Freiheit wurde herzlich gelacht im Nürnberger Parkett.

Wolfgang Katschner hatte – wie schon im Sommer in Monteverdis Ulisse – eine Kammerformation der Staatsphilharmonie mit Berliner Kräften seiner Lautten-Companey verstärkt und ein bewegliches, jederzeit fokussiertes Ensemble geformt, das gut auch ohne Chor auskommt. So entstand die von Katschner immer intendierte schlank federnde Klangmischung, gleichzeitig präzise wie tänzerisch, prägnant in solistischen Akzenten. Wie gerade zu Beginn in „Ombra mai fù“: statt schwerblütigem Largo-Hitzestau um die Platane nahm Katschner das Larghetto ernst, betonte das liebenswert-erfrischende in Nie war der Schatten einer Pflanze süßer. Dies trug die Mezzosopranistin Almerija Delic als Xerxes bei ihrem ersten Auftritt überzeugend vor, schnitzte ihre Botschaft passend ins Holz des Skateboards. Sie gewann im Laufe des Abends imponierende Virtuosität und stimmliche Flexibilität in der Charakterisierung des egomanen Herrschers, zusammen mit körperlicher Beweglichkeit in der Halfpipe eine bewundernswert hochexpressive Tour de force.

Schon Händel spielte mit der Besetzung der Hosenrollen, was sich im Ensembleklang positiv auswirkte und dank modisch-angesagter Kostüme auch hier dramaturgisch glaubwürdig ankam. Arsamene, Xerxes' Bruder, wurde vom israelischen Countertenor Zvi Emanuel-Marial spielstark verkörpert; stimmlich blieb er etwas eindimensional und in der Höhe blass.

Nicht von ungefähr hatten es die beiden „Brüder“ der Königsfamilie schwer mit ihren Freundinnen: beide mitreißend, ja spektakulär und sportlich in ihren Rollenportraits! Julia Grüter als Romilda, im Widerstand gegen Xerxes' Abwerbeversuche, ist die eigentlich treibende Kraft des Bühnengeschehens. Innigkeit, außergewöhnliche Durchdringung des Details und konzentrierter warmer Stimmklang kennzeichneten ihre Auftritte, ließen Romilda und Arsamene zum zentralen Liebespaar werden. Andromahi Raptis überzeugte mit leuchtenden Sopranhöhen und halsbrecherischen Koloraturen in der Rolle der Atalanta, forderte ersten Szenenapplaus heraus: Geschmeichelt und die Augen verdreht: ich weiß wie das geht! Mit Blitzen aus den Pupillen trieb sie die Komödie in der Oper voran, ist schließlich auch in der Liaison mit Diener Elviro glücklich, bei dem Wonyong Kang Komik und Schönklang nicht zu kurz kommen ließ. Nicolai Karnolski gab einen fürsorglichen Vater der beiden Schwestern.

Herrlich liebenswert war Martina Dike als überzeugende Darstellerin der Amastre, die Xerxes trotz aller seiner Seitensprünge liebt und zunehmend verzweifelt in dramatischen Sopranhöhen alles versucht, das Herz des Herrschers zu behalten. Wie die Oper für Xerxes ausgeht? Er wird wohl bei Amastre bleiben, zumindest bis die nächste Platane in seinem Weg steht.

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