Bayerische Staatsoper: „Dido and Aeneas“ und „Erwartung“ – Ein wahres Gesamtkunstwerk

STO München/DIDO AND AENEAS+ERWARTUNG/Foto @ Bernd Uhlig

Henry Purcells Oper Dido and Aeneas, Uraufführung in den späten 1680er Jahren, und Arnold Schönbergs Monodrama Erwartung, Uraufführung 1924, zwei denkbar unterschiedlichen Werke an einem Abend, in einer Inszenierung – ein gewagtes Konzept, das aber an der Bayerischen Staatsoper aufgeht. In der psychologisch-düsteren Inszenierung Krystof Warlikowskis fließen beide Werke zusammen und erzählen gemeinsam eine größere Geschichte, ohne ihre Selbstständigkeit zu verlieren. Eine schauspielerisch unglaublich starke Hauptdarstellerin macht den Abend perfekt.(Besuchte Vorstellung am 01.02.2023)

 

 

Es ist keine leichte Kost, die dem Publikum in Dido and Aeneas…Erwartung präsentiert wird. Aber wie auch? Die Geschichte der karthagischen Königin Dido, die von Aeneas verlassen wird, damit er nach Italien gehen und Rom gründen kann, ist schon oft erzählt worden. Gut aus geht sie nie. In der Inszenierung von Krysztof Warlikowski fängt sie nicht einmal gut an. An keiner Stelle sind Dido und Aeneas ein glückliches Paar, sie tun nicht einmal so, als wären sie es. Eine einzige Szene gibt es, in der heftig geknutscht wird, ansonsten ist von der Liebesbeziehung der beiden nicht viel zu sehen. Dido und Aeneas halten sich kaum im selben Raum auf und wenn doch, dann um aneinander vorbeizureden. Tatsächlich kommunizieren die beiden nur in der Szene wirklich miteinander, in der Dido Aeneas darum bittet, zu gehen, nachdem wie in Purcells Partitur vorgeschrieben noch einmal zurückkommt und seine Fehler wiedergutmachen will. Es wirkt, als gehöre diese Beziehung schon der Vergangenheit an, bevor Aeneas sich entscheidet, Dido zu verlassen. Und doch, auf den ersten Blick wirkt es, als sei der Grund für die Trennung denkbar banal: Aeneas hat eine Affäre mit Belinda, Didos Freundin, die ihn verführt. Diesen Verrat verarbeitet Dido dann auf denkbar heftige Weise: Am Ende des von Paweł Mykietyn eigens für den Übergang von Dido and Aeneas zu Erwartung komponierten Interludes sieht man, wie sie Aeneas und Belinda erschießt. Doch sieht man genau hin, kann man am Ende nicht mal mehr ganz sicher sagen, ob denn Aeneas‘ Beziehung zu Belinda wirklich geschehen ist.

STO München/DIDO AND AENEAS+ERWARTUNG/Foto @ Bernd Uhlig

Denn Dido, das ist schon vor dem ersten Ton klar, ist bei Warlikowski keine Königin, sondern eine einsame und von Anfang an tieftraurige Frau. Noch dazu scheint sie psychisch krank zu sein, sie hat Schwierigkeiten, Realität und Fantasie zu unterscheiden, was Warlikowski in seiner Inszenierung auf geniale Weise abbildet. Jede Szene des Doppelabends lässt sich auf verschiedene Weisen interpretieren, immer zweifelt man, was denn nun echt ist, und was nur in Didos Kopf geschieht. Geschickt unterstützt wird dieses Spiel mit Didos Wahrnehmung durch die Videoprojektionen Kamil Polaks. Auf einer großen Leinwand scheinen diese zunächst nur Małgorzata Szczęśniaks Bühnenbild, einen tristen, toten Wald voll von schwarzen astlosen Baumstämmen, nach hinten zu erweitern, zeigen dann aber einen Einblick in Didos Psyche. Im Laufe der Oper erscheinen zwischen Polaks Bäumen dunkle Gestalten, die immer näher zu kommen scheinen, die aber definitiv nur Dido sieht, andere Darsteller gehen nicht auf die Gestalten ein. Die Frage nach Didos Einbildung betrifft aber auch leibhaftige Figuren auf der Bühne: Auf einer Picknickdecke sitzend verkündet die Sorceress, gesungen von Countertenor Key’mon W. Murrah, dass Aeneas von Dido getrennt werden muss. Mit der als Merkur verkleideten Sorceress – mit E-Scooter, eine so auf der Hand liegende wie geniale Umsetzung der Verkleidung – interagiert auch Aeneas, trotzdem lässt sich nicht sicher sagen, ob die Sorceress wirklich so ist, wie Dido sie wahrnimmt. Diese Unsicherheit, die vielen Fragen, die sich stellen ohne beantwortet zu werden, machen den besonderen Reiz von Warlikowskis Inszenierung aus.

Noch intensiver wird das Spiel mit Einbildung und Wirklichkeit in der zweiten Hälfte des Abends, also allem, was nach Purcell geschieht. Erwartung, natürlich, aber auch schon das Interlude von Paweł Mykietyn. Die Handlung läuft währenddessen weiter und neben den Grenzen zwischen Realität und Einbildung, verschwimmen hier auch die zwischen Tod und Leben. Bekanntermaßen ist es so, dass Dido am Ende von Purcells Dido and Aeneas stirbt. In dieser Produktion aber wird Dido, beziehungsweise ihre Darstellerin Ausrine Stundyte ja noch gebraucht, um die Partie der Frau in Schönbergs Erwartung zu singen. Mehr noch: Es soll eine zusammenhängende Handlung erzählt werden, die durchgehend dieselbe Hauptdarstellerin hat. Dafür müsste Dido eigentlich am Leben bleiben. Zunächst scheint es aber dennoch so, als stürbe Dido. Während Ausrine Stundytes hochemotionaler Darbietung der berühmten Todesarie When I Am Laid In Earth hilft Viktoria Randem, die Darstellerin der Belinda, ihr in einen roten Schlafsack. Dido legt sich hin und bleibt während des Schlusschores und fast des gesamten Interludes auf dem Rücken liegen. Choreographisch gestaltet wird dieser Teil des Abends von den Tänzern des Bayerischen Staatsballetts, die – übrigens meisterhaft – eine Breakdance-Choreographie von Claude Bardouil ausführen. Dazu kommen zwei Videoprojektionen. Auf der großen Leinwand wird die Animation eines scheinbar endlosen Tunnels, mal mit Graffiti an den Wänden, mal in grau, gezeigt, am Ende des Tunnels ist ein Licht. Auf einer kleineren Leinwand im oberen Bühnenbereich sieht man einen roten Sarkophag, eine Art Spiegelbild von Didos Schlafsack. Die Symbolik ist klar. Eigentlich. Denn die so offensichtlich tote Dido steht wieder auf und geht in ihre Hütte, wo sie dann Aeneas und Belinda erschießt.  Erschöpft lässt sie sich anschließend auf das Sofa sinken. Auf der kleinen Leinwand sehen wir im Close-Up, wie sie die Augen schließt. Das Interlude endet schließlich mit einem lang ausgehaltenen, elektronischen Ton, wie man ihn aus Arztserien kennt, wenn der Herzschlag eines Patienten stoppt. Aber wer stirbt hier?

Die Inszenierung läuft weiter, ohne die Frage zu beantworten. Oder beginnt sie von neuem? Denn etwas fasziniert am zweiten Teil dieses Abends: Angenommen man käme erst nach dem Interlude ins Theater und hätte keine Ahnung, was in der letzten Stunde auf der Bühne passiert ist, man könnte meinen, die Bayerische Staatsoper zeige eine gewöhnliche Inszenierung von Arnold Schönbergs Monodrama Erwartung. Das Orchester stimmt, und dann beginnt die Aufführung wie schon Dido and Aeneas, wo der Wetterbericht aus einem Autoradio das Stück akustisch eröffnet hat. Nur ohne ein Auto und ohne Radio. Eine Stimme spricht aus den Lautsprechern, fordert dazu auf, die eigenen Erwartungen zu hinterfragen. Es klingt wie der Anfang einer Therapiestunde. Zumindest auf der kleinen Leinwand wird Erwartung dann auch wie eine Therapiestunde behandelt, denn das Close-Up vom Gesicht der auf dem Sofa liegenden Dido bleibt, vielleicht arbeitet sie ja an ihren Erwartungen. Die leibhaftige Dido steht auf und irrt über die Bühne, auf der großen Leinwand sieht man das Geschehen scheinbar aus ihrer Sicht: Da ist ein verschneiter Waldweg, überall sind Bäume. Ein Reh läuft vorbei. Es gibt erstmal keine Anzeichen mehr, dass dieser Abend Teil eines Doppelabends ist. Nur die düstere 70er-Jahre-Ästhetik bleibt, und natürlich findet Dido auch nicht nur eine Leiche, sondern zwei, die von Aeneas und Belinda. Weil es in der Inszenierung nicht um Logik geht, stehen die beiden gegen Ende des Stücks dann, wie Dido, ebenfalls wieder auf, setzen sich an einen Tisch wie zu einem Date. Dido kommt dazu und neben ihrem ehemaligen Liebhaber und ihrer angeblich besten Freundin begeht sie Selbstmord. Die Handlung ist in sich geschlossen. Sähe man nur diesen Teil des Abends, man hätte nicht das Gefühl, dass etwas fehle. Und ähnlich erginge es wohl jemandem, der – aus welchem Grund auch immer – nach Dido and Aeneas den Saal verlässt. Der Abend könnte auch mit Purcells Schlusschor und Didos erstem Tod im Schlafsack zu Ende sein. Er wäre nur etwas kurz. Dido and Aeneas wie Erwartung, beide Werke behalten bei Warlikowski ihre Eigenständigkeit, aber gewinnen durch die Kombination mit dem jeweils anderen Stück an Tiefe. Aus einem Mythos und einem Monodrama wird eine psychologische Studie über eine Frau, die von Anfang an verlassen ist und nicht mehr in die Realität zurückfindet.

STO München/DIDO AND AENEAS+ERWARTUNG/Foto @ Bernd Uhlig

Dargestellt wird diese Frau von der litauischen Sopranistin Ausrine Stundyte, Für diesen Doppelabend ist sie wie gemacht. Schon für sich sind die beiden Hauptrollen, Dido und die namenlose Frau, recht anspruchsvoll: Dido ist zumindest in dieser Inszenierung sehr passiv, ihrer Darstellerin muss es gelingen, präsent bleiben, obwohl ihre Figur sich die meiste Zeit am liebsten verstecken will, die Frau bei Schönberg muss in dem Monodrama, wie die Bezeichnung schon verrät, die ganze Handlung allein tragen, ohne Anspielpartner, immerhin mit umso mehr Regieanweisungen, die aber auch nicht immer eins zu eins umgesetzt werden. Irgendwo sind die Anforderungen an die Hauptdarstellerin ähnlich, in großen Teilen aber auch grundverschieden. Stundyte, eine unglaublich starke Sängerin und noch stärkere Schauspielerin, schafft beide Rollen. Es gelingt ihr sogar, die beiden Frauen als unverkennbar dieselbe Figur zu spielen. Dido ist die Frau, die Frau ist Dido. Und das, obwohl im ersten und im zweiten Teil des Abends nicht einmal dieselbe Sprache gesungen wird. Höchstens könnte man ihr den Vorwurf machen, dass die übrigen Sänger*innen und auch das grandiose Tanzensemble neben ihr untergehen, weil sie zu sehr an die Wand gespielt werden. Zwar strahlt Victoria Randem als Belinda, Günther Pappendel ist ein stimmlich etwas grober, schauspielerisch dafür ein sehr runder Aeneas – am Ende bleibt der Abend trotzdem irgendwie ein Ausrine Stundyte-Soloabend. Zu ihrer Verteidigung sei gesagt, dass es schwierig ist, nicht deutlicher als alle anderen in Erinnerung zu bleiben, wenn man die zweite Hälfte eines Abends in der Tat mehr oder minder allein gestaltet. Außerdem ist gegen einen quasi-Soloabend irgendwie ja auch nichts einzuwenden, wenn die Hauptdarstellerin dieser Rolle gewachsen ist. Und das ist Ausrine Stundyte auf jeden Fall.

Natürlich, in den Augen von Barockpuristen hat sie womöglich ein bisschen zu viel Vibrato und eine fast zu dramatische Stimme für die Purcell-Oper Dido and Aeneas. Der feine Sopran Victoria Randems als Belinda und sowieso die wunderbar klare Stimme des Countertenors Key’mon W. Murrah als Sorceress passen besser zu diesem Werk. Doch darüber kann man hinwegsehen. Stundytes kräftiger Sopran ist dafür fast ideal für Schönberg. Hätte man den Abend mit einer Sopranistin besetzt, die über eine fantastische Barockstimme verfügt und für Purcell perfekt geeignet ist, man hätte bei Schönberg Abstriche machen müssen. Dass das Bayerische Staatsoper kein Barockorchester ist und dass Dirigent Andrew Manze die stilistischen Merkmale der Oper des 17. Jahrhunderts nicht ganz so klar herausstellt wie die von Schönbergs Musik, fällt auch nicht weiter negativ auf. Es stimmt, Arien und Rezitative sind bei ihm tatsächlich nicht immer ganz klar unterscheidbar, zu Einheitsbrei wird die Oper trotzdem nicht. Manzes Dirigat wirkt nur hier schon ein bisschen an Schönberg angepasst. Und das ist vielleicht auch ganz gut so. Was man nämlich nicht vergessen darf: Manze dirigiert an diesem Abend nicht separat voneinander Dido and Aeneas und Erwartung, er dirigiert Dido and Aeneas…Erwartung, einen zusammengehörenden Abend. Und das funktioniert fantastisch, eben auch,. weil er die Stücke verschieden, aber nicht zu unterschiedlich dirigiert.

STO München/DIDO AND AENEAS+ERWARTUNG/Foto @ Bernd Uhlig

Zusätzlich entschärft wird der Kontrast zwischen Purcell und Schönberg durch das von Paweł Mykietyn eigens komponierte Interlude. Der polnische Komponist greift zwar melodisch Elemente aus Dido and Aeneas in seiner Musik auf, arbeitet aber ansonsten durch und durch zeitgenössisch. Ohne eine sichtbare Quelle kommt Mykietyns elektronische Musik aus den Lautsprechern, Rinat Shaham steht dazu auf der Bühne, improvisiert auf einer E-Gitarre und singt – nicht klassisch. Am Nationaltheater ist das ein Novum in einer Operninszenierung. Irgendwo freilich ist dieses Interlude ein Lösungsversuch, um einen zusammenhängenden Abend zu ermöglichen, Stichwort Kontraste entschärfen, und um vom Umbau des Orchestergrabens abzulenken, der notwendig ist, um musikalisch vom 17. Jahrhundert ins das 20. Jahrhundert zu reisen. In der fertigen Inszenierung sticht es heraus, wird fast zu einem dritten Stück. Das liegt zum einen natürlich an der Breakdance-Choreographie, die so anders ist, als was sonst auf dieser Bühne geschieht, zum anderen an den Kostümen. Die Tanzenden, die auch in anderen Szenen der Oper zu sehen sind, meistens im Gefolge der Sorceress, tragen bunte Kleidung, die an der Mode der 70er Jahre orientiert ist, so wie zumindest optisch die ganze Inszenierung Małgorzata Szczęśniak, die sich für Bühne wie Kostüm gleichermaßen verantwortlich zeichnet, bleibt ihrer Ästhetik treu, setzt aber einen willkommenen Farbklecks in den sonst sehr grauen Abend. Auch optisch ist das Interlude am Ende, bis auf den Mord, wohl der am leichtesten verdauliche Teil des Abends, nur vereinzelte Zuschauer zeigen sich mit dem Zeitgenössischen, der radikal modernen Musik und Choreographie überfordert. Den meisten Menschen aber gefällt’s. Auch wenn das Interlude radikal anders ist als das meiste, was sonst im Nationaltheater geboten wird: Am Ende der Darbietung regt sich Applaus. Wenn es dann doch nicht recht zügig mit Erwartung weitergegangen wäre, es hätte Szenenapplaus gegeben.

Bis auf das Interlude, dass nicht für sich stehen kann, würden die an diesem Abend gebotenen Stücke an der Bayerischen Staatsoper allein wohl nicht weiter auffallen – Purcell im Cuvilliéstheater, Schönberg im Nationaltheater. In dieser Kombination aber ist Dido and Aeneas…Erwartung einzigartig. Die Bayerische Staatsoper hat mit Krzysztof Warlikowskis Inszenierung dieser beiden Werke als einen Doppelabend ein Experiment gewagt, das aber auf ganzer Linie aufgeht. Am Ende ist weder Dido and Aeneas eine Vorgeschichte zu Erwartung noch Erwartung eine bloße Fortsetzung zu Dido and Aeneas, vielmehr werden beide Werke zu einer viel größeren Geschichte zusammengesetzt, als sie eine Oper allein erzählen könnte. Dieser Doppelabend ist ein Gesamtkunstwerk. Mehr noch: In Anbetracht der herausragenden Leistung von Ausrine Stundyte, der in sich stimmigen Bühnenbilder und Kostüme, der klugen Einbeziehung von Videos und Ton kann man durchaus sagen: Der Begriff „Gesamtkunstwerk“ wurde auf der Bühne schon lange nicht mehr so gut umgesetzt wie in Dido and Aeneas…Erwartung. Ein sehr beeindruckender Abend.

 

 

 

Teile diesen Beitrag:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert