Radikale Reduktion

Ri­chard Wag­ners „Tris­tan und Isol­de“ in der Neu­in­sze­nie­rung am Thea­ter Nord­hau­sen: Kri­tik und In­ter­view mit Di­ri­gent Mi­cha­el Helmrath.

Sze­ne aus dem 2. Akt mit So­lis­ten, Chor und Sta­tis­ten – Alle Sze­nen­fo­tos: Ju­lia Lormis

Als ers­tes fiel mir Ralph Boll­manns Thea­ter­rund­rei­se „Wal­kü­re in Det­mold“ ein, als ich von der „Tristan“-Produktion in Nord­hau­sen er­fuhr. Wag­ner in ei­nem Haus, das kei­ne 500 Zu­schau­er fasst (und zur Pre­mie­re nur vier­zig Pro­zent rein­las­sen durf­te)? Mit ei­nem Or­ches­ter, das ge­ra­de mal 50 Mu­si­ker zählt, dazu jede Men­ge De­bü­tan­ten auf, vor und hin­ter der Büh­ne? Ist das nicht ein aber­wit­zi­ger Plan? Ist es. Trotz­dem hat es funk­tio­niert, und zwar mehr als be­acht­lich, ja zum Teil begeisternd.

Was gute Grün­de hat, denn ers­tens eig­net sich kein wag­ne­ri­sches Mu­sik­dra­ma mehr zum in­ti­men Kam­mer­spiel als eben „Tris­tan und Isol­de“. Und zwei­tens steht in Nord­hau­sen Mi­cha­el Helm­rath am Pult, von Herbst 2016 bis Som­mer 2021 Ge­ne­ral­mu­sik­di­rek­tor des Thea­ters und des da­zu­ge­hö­ri­gen Loh-Or­ches­ters Son­ders­hau­sen. Dem Di­ri­gen­ten war bei der we­gen Co­ro­na ver­scho­be­nen Pre­mie­re nir­gends an­zu­mer­ken, dass das auch für ihn der ers­te kom­plet­te „Tris­tan“ war. Viel­mehr war zu hö­ren, dass da ei­ner nicht nur die Par­ti­tur gut kennt – und, vor al­lem was die Tem­pi be­trifft, die von Fe­lix Mottl über­lie­fer­ten An­ga­ben Wag­ners –, son­dern auch sei­ne In­stru­men­ta­lis­ten. Der frü­he­re Solo-Obo­ist der Münch­ner Phil­har­mo­ni­ker und lang­jäh­ri­ge Chef der Bran­den­bur­ger Sym­pho­ni­ker weiß sei­ne Mu­si­ker für die­se au­ßer­or­dent­li­che Auf­ga­be zu mo­ti­vie­ren und hat kei­ne Angst da­vor, wenn die Strei­cher­be­set­zung noch deut­lich un­ter dem liegt, was als Min­dest­stan­dard gilt. Na­tür­lich ist ein der­art dün­ner Strei­cher­klang zu­wei­len grenz­wer­tig, aber in­dem Helm­rath ent­spre­chen­de dy­na­mi­sche Re­tu­schen vor­nimmt, da­mit ins­ge­samt die Ba­lan­ce wie­der stimmt, ist es ein zu­wei­len kam­mer­mu­si­ka­li­scher, aber den­noch ein ve­ri­ta­bler Wagnerklang.

Alex­an­der Schulz (Tris­tan) und Kirs­tin Shar­pin  (Isol­de) im 1. Akt

Das kommt vor al­lem den So­lis­ten zu­gu­te, bis auf zwei Aus­nah­men Rol­len­de­bü­tan­ten. Der Star des Abends ist Kirs­tin Shar­pin als Isol­de. Die aus Neu­see­land stam­men­de So­pra­nis­tin und Ge­win­ne­rin des Wag­ner­stim­men­wett­be­werbs 2015 in Karls­ru­he recht­fer­tigt die­sen Preis mir ei­ner wun­der­bar kla­ren, si­che­ren, wort­ver­ständ­li­chen und ge­schmei­di­gen, an den rich­ti­gen Stel­len auch strahl­kräf­ti­gen Stim­me. Sie weiß und ver­steht, was sie singt, auch in ih­rer Mi­mik und Kör­per­spra­che wirkt al­les na­tür­lich. Scha­de, dass Alex­an­der Schulz als Tris­tan nicht über die­se sän­ger­dar­stel­le­ri­sche Prä­senz ver­fügt. Zwar lässt er vor al­lem im 3. Akt hel­den­te­no­ral auf­hor­chen, doch ver­mag er sein stimm­li­ches Po­ten­zi­al nicht durch­gän­gig und aus­ge­gli­chen ein­zu­set­zen. Als bes­tes En­sem­ble­mit­glied re­üs­siert Tho­mas Kohl als nur in den höchs­ten Tö­nen nicht sou­ve­rä­ner Kö­nig Mar­ke, auch die wei­te­ren Par­tien sind spiel­freu­dig und gut be­setzt. Dazu der von Mar­kus Fi­scher ein­stu­dier­te Her­ren- und Ex­tra­chor des Hau­ses so­wie ei­ni­ge Statisten.

Kirs­tin Shar­pin (Isol­de) im 2. Akt

Ivan Al­bo­re­si, Bal­lett­di­rek­tor des Hau­ses, hat erst­mals eine Oper in­sze­niert – noch ein ge­lun­ge­nes De­büt! In ei­ner dras­tisch re­du­zier­ten Äs­the­tik mit ei­ni­gen re­gie­thea­ter­mo­di­schen Ein­spreng­seln ver­sucht er, „die pure Es­senz der Emo­tio­nen“ der Ti­tel­prot­ago­nis­ten und der sie um­krei­sen­den Fi­gu­ren frei­zu­le­gen. Die abs­trak­te Büh­ne von Wolf­gang Kuri­ma Rausch­ning be­steht aus ei­nem mehr­fach ge­staf­fel­ten, wan­del­ba­ren Pla­fond und ei­ner dreh­ba­ren gro­ßen Schrä­ge, die in al­len drei Ak­ten mit je un­ter­schied­li­chem Ma­te­ri­al be­legt ist und von der im letz­ten Akt nur noch Bruch­stü­cke vor­han­den sind. Ei­ni­ge stim­mi­ge Pro­jek­tio­nen und far­bi­ges Licht ge­nü­gen, um dem Pu­bli­kum den Frei­raum für pas­sen­de As­so­zia­tio­nen zu ge­ben. Die heu­ti­gen Kos­tü­me von Diet­rich von Greb­mer set­zen in der im­mer wie­der sur­re­al wir­ken­den und hin und wie­der von Cho­ris­ten und Sta­tis­ten be­leb­ten Sze­ne­rie auch far­bi­ge Ak­zen­te. Wer wie von un­ge­fähr ein biss­chen an Neu­bay­reuth denkt, liegt nicht falsch. Die Fi­gu­ren be­we­gen sich teil­wei­se wie Skulp­tu­ren im Raum, sind aber gleich­zei­tig sehr mensch­lich in ih­rem Ge­fühls­cha­os. Auch wenn viel an der Ram­pe ge­sun­gen wird, ist das nur mit ei­ner Aus­nah­me Ram­pen­sin­gen. Viel­mehr in­ten­si­viert die ge­ge­be­ne Nähe den Aus­druck der Sän­ge­rin­nen und Sän­ger, trans­por­tiert das, was die han­deln­den Per­so­nen in ih­rem In­ners­ten bewegt.

Sze­ne aus dem 3. Akt mit Tho­mas Kohl (Kö­nig Mar­ke), Nii­na Kei­tel (Bran­gä­ne) und Kirs­tin Shar­pin (Isol­de)

Ein Son­der­lob ge­bührt den zu­schau­er­freund­lich gro­ßen Über­ti­teln, un­be­dingt zu ta­deln bleibt die un­or­tho­do­xe Vor­hang­re­gie, die der Ti­tel­prot­ago­nis­tin und dem Pu­bli­kum den ers­ten be­frei­en­den Ap­plaus nicht gönnt und statt­des­sen zu­nächst die Sta­tis­ten auf die Büh­ne schickt. Scha­de, dass kei­ner dem Opern­de­bü­tan­ten Al­bo­re­si da­von ab­ge­ra­ten hat. Denn da­mit wird den Haupt­so­lis­ten und dem glei­cher­ma­ßen auf­ge­wühl­ten Pu­bli­kum im Saal ver­wei­gert, ge­nau das zu emp­fan­gen be­zie­hungs­wei­se aus­zu­drü­cken, wor­um es doch drei­ein­halb Stun­den lang ge­gan­gen ist: jede Men­ge Emotionen.

Isol­des Schluss­ge­sang mit Kirs­tin Sharpin

Be­such­te Pre­mie­re am 29. Ja­nu­ar 2022, wei­te­re Vor­stel­lun­gen am 13. und 19. Fe­bru­ar, 26. März und 7. Mai. Wei­ter In­fos https://​thea​ter​-nord​hau​sen​.de/

Nach der Pre­mie­re der „Tristan“-Neuinszenierung in Nord­hau­sen, wo die­ses Wag­ner­werk vor 100 Jah­ren erst­mals auf­ge­führt wur­de, konn­te ich ei­ni­ge Fra­gen an Di­ri­gen­ten Mat­thi­as Helm­rath stellen.

Ha­ben Sie eine Be­ar­bei­tung der Par­ti­tur be­nutzt? Re­du­zier­te Ver­sio­nen sind ja nicht erst seit Co­ro­na im Umlauf …
Mi­cha­el Helm­rath: Not­ge­drun­gen habe ich mir di­ver­se Be­ar­bei­tun­gen an­ge­schaut, sie je­doch wie­der ver­wor­fen. Wir ver­wen­den das ver­brei­te­te Breit­kopf-Ma­te­ri­al; na­tür­lich muss man des Öf­te­ren teil­wei­se er­heb­li­che, zu­meist dy­na­mi­sche Re­tu­schen vor­neh­men, da Wag­ner über­aus groß­zü­gig mit for­te und for­tis­si­mo um­geht. Er selbst hat die­se nach sei­nen prak­ti­schen Er­fah­run­gen auch vor­ge­nom­men; die meis­ten er­ge­ben sich in der Pro­ben­ar­beit. Die Ba­lan­ce lässt sich nicht mit­tels dür­rer dy­na­mi­scher An­wei­sun­gen her­stel­len – was ge­nau ist ein mez­zo­for­te? –, son­dern setzt ein mit-den­ken­des und -hö­ren­des Or­ches­ter vor­aus, das fle­xi­bel re­agiert. Dar­aus be­steht oh­ne­hin stets der Groß­teil der mu­si­ka­li­schen Ar­beit, nicht nur in der Oper, nicht nur bei Wagner.

Wel­che Ab­stri­che gab es in den Instrumentengruppen?
Mi­cha­el Helm­rath: Bei den Blä­sern kei­ne, denn, wie er­wähnt, lit­ten da­bei die wun­der­bar aus­ge­hör­ten Fein­hei­ten der In­stru­men­ta­ti­on Wag­ners. Der Or­ches­ter­gra­ben im Thea­ter Nord­hau­sen ist sehr klein, wie Sie ja ver­mut­lich mit Schre­cken fest­ge­stellt ha­ben. Das Loh-Or­ches­ter ist, vor al­lem in den Strei­chern, auch nicht üp­pig be­setzt. Den­noch tei­le ich die Ein­stel­lung des In­ten­dan­ten, das Re­per­toire nicht im­mer auf die Gra­ben­grö­ße ab­zu­stim­men; das Pro­blem be­steht be­kannt­lich nicht nur in Nordhausen.
Da­her „leis­tet“ sich das Thea­ter im­mer wie­der Wer­ke, in de­nen die Be­set­zung an ihre Gren­zen kommt. Un­ter an­de­rem ha­ben wir „Sa­lo­me“, „Otel­lo“, „Les Dia­lo­gues des Car­mé­li­tes“ oder „Ma­dama But­ter­fly“ auf­ge­führt und nur bei „Sa­lo­me“ eine von Strauss selbst leicht re­du­zier­te Ver­si­on ver­wen­det (wo­bei Pau­ke und fünf Schlag­zeu­ger hin­ter die Büh­ne ver­bannt wer­den muss­ten, was zur all­sei­ti­gen Über­ra­schung dank vor­züg­li­cher Ton­tech­nik sehr gut funk­tio­nier­te). Wenn also bei den Blä­sern nicht re­du­ziert wird, so bleibt nur eine nicht wirk­lich ad­äqua­te, sprich: klei­ne  Strei­cher­be­set­zung, da man die Mu­si­ker nicht sta­peln kann. Ge­nau sind es 7/6/5/4/2 [1. Geige/​2. Geige/​Bratsche/​Cello/​Kontabass], wün­schens­wert wä­ren min­des­tens 12/10/8/6/4, was für uns il­lu­so­risch ist. Da­mit muss ein so klei­nes Haus ein­fach le­ben. Es ent­spricht im Üb­ri­gen mei­ner Mei­nung nach den Auf­ga­ben ei­nes Stadt­thea­ters, dem Pu­bli­kum ein mög­lichst brei­tes An­ge­bot zu ma­chen, dazu ge­hö­ren auch die oben er­wähn­ten groß be­setz­ten Wer­ke. Für die „Fort­ge­schrit­te­nen“ oder „An­ge­fix­ten“ gibt es Zug­ver­bin­dun­gen in die Me­tro­po­len oder nach Bayreuth…

Wo ge­nau ha­ben Sie gestrichen?
Mi­cha­el Helm­rath: Ich habe mich für ei­nen Strich im zwei­ten Akt ent­schie­den, der frü­her ganz üb­lich war und in et­li­chen Pro­duk­tio­nen nach­hör­bar ist, un­ter an­de­rem mit Leins­dorf, Rei­ner, Ka­ra­jan in Salz­burg und Mai­land, Erich Klei­ber in Bue­nos Ai­res. Wag­ner hat­te be­reits er­kannt, dass der zwei­te Akt, ins­be­son­de­re für den Sän­ger des Tris­tan, so be­las­tend ist, dass der ganz be­son­ders stra­pa­ziö­se drit­te Akt dann nur mit Mü­hen zu be­wäl­ti­gen ist. Er hat auch ei­nen et­was an­de­ren Strich vor­ge­schla­gen, war aber doch Prak­ti­ker ge­nug, um die Sän­ger nicht in der Mit­te der Oper früh­zei­tig stimm­lich ster­ben zu las­sen. Er hat auch ei­nen Strich im 3. Akt vor­ge­ge­ben, den wir je­doch nicht um­ge­setzt haben.

Die Akt­län­gen bei Ihnen?
Mi­cha­el Helm­rath: Nicht se­kun­den­ge­nau 1. Akt: 1 Stun­de 15 Mi­nu­ten; 2. Akt: 1 Stun­de 7 Mi­nu­ten (hier gab es den er­wähn­ten Strich); 3. Akt: 1 Stun­de 15 Minuten.

In­wie­fern pro­fi­tiert das Or­ches­ter von dem Projekt?
Mi­cha­el Helm­rath: Für ein Or­ches­ter wie das Loh-Or­ches­ter Son­ders­hau­sen ist der „Tris­tan“ eine Her­aus­for­de­rung jen­seits der üb­li­chen Rou­ti­ne. Da ist zum ei­nen die schie­re Mas­se an Ma­te­ri­al, et­li­che sehr schwer zu spie­len­de Pas­sa­gen, vie­le Wech­sel und ru­ba­ti, es be­darf ei­ner gro­ßen Fle­xi­bi­li­tät in Dy­na­mik und Tem­po. Die Mu­si­ker und Mu­si­ke­rin­nen sind al­le­samt über­aus mo­ti­viert, sich die­ser Auf­ga­be zu stel­len, auch der da­mit not­wen­di­ger­wei­se ver­bun­de­nen in­ten­si­ven und lan­gen, an­stren­gen­den Pro­ben­ar­beit. „Ne­ben­her“ spie­len sie das an­de­re Re­per­toire, zum Bei­spiel „Der Vet­ter aus Dings­da“, „L’elisir d’amore“ und un­ter an­de­rem mit mir die üb­li­chen Neu­jahrs­kon­zer­te in der End­pro­ben­pha­se des „Tris­tan“, wo die Fall­hö­he zwi­schen „O, sink her­nie­der, Nacht der Lie­be“ und „Bad­ner Madln“ all­zu deut­lich er­leb­bar war. Das Or­ches­ter (und das gan­ze Thea­ter) wird sich an die­ses Pro­jekt noch lan­ge erinnern.

War die Pro­duk­ti­on Ihr Wunsch?
Mi­cha­el Helm­rath: Der Vor­schlag kam vom In­ten­dan­ten Da­ni­el Kla­j­ner. Nach­dem ich mich von dem ers­ten Schock er­holt hat­te, habe ich mich dar­auf ein­ge­las­sen, wo­bei ich fest­stel­len konn­te, dass die­se Oper mehr als alle an­de­ren, die ich ken­ne, den­je­ni­gen „auf­frisst“, der sich dar­auf ein­lässt. Ei­nen „Bro­cken“ wie den „Tris­tan“ hat­te ich noch nicht zu heben.

Mi­cha­el Helm­rath – Foto: Thea­ter Nordhausen