„Quartett“ an der Staatsoper: Kalte Boshaftigkeit

Die Staatsoper eröffnet die Saison mit „Quartett“ von Luca Francesconi nach Heiner Müller. Die erlesene Obszönität von Müllers Text geht dabei weitgehend verloren.

Francesca Ciaffoni (Tänzerin), Ségolène Bresser (Kind), Mojca Erdmann (Marquise de Merteuil) und Thomas Oliemans (Vicomte de Valmont, v. l.) in „Quartett“ an der Staatsoper.
Francesca Ciaffoni (Tänzerin), Ségolène Bresser (Kind), Mojca Erdmann (Marquise de Merteuil) und Thomas Oliemans (Vicomte de Valmont, v. l.) in „Quartett“ an der Staatsoper.Monika Rittershaus

Berlin-Bedeutende Werke des neuen Musiktheaters brauchen oft viele Jahre nach Berlin. Die Opern von John Adams sind hier noch nie gespielt worden, von Olga Neuwirth erklang bislang nur eine „Lulu“-Bearbeitung, Helmut Lachenmanns gefeiertes „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ hat von der Hamburger Uraufführung bis zur Deutschen Oper Berlin 15 Jahre benötigt. Wenn Luca Francesconis „Quartett“ nach neun Jahren an der Staatsoper Unter den Linden aufgeführt wird, scheint das geradezu rasant zu sein. Und dennoch möchte man das Interesse der drei Berliner Häuser an dem Werk angesichts von mittlerweile über 80 Produktionen weltweit, darunter eine in Dortmund, nicht unbedingt brennend nennen, zumal bedenkend, dass Francesconi das gleichnamige Theaterstück von Heiner Müller zugrunde legte, für den man sich gerade in Berlin doch zuständig fühlen sollte.

Zur traditionellen Saisoneröffnung der Staatsoper am 3. Oktober erklang das ursprünglich englischsprachige Stück erstmals in Francesconis eigener deutscher Bearbeitung, die Müllers Text ein wenig kürzt und zuweilen vielfältiger auf die beiden Personen verteilt als es das Theaterstück tut. Die intriganten Hauptfiguren Merteuil und Valmont hat Müller dem Briefroman „Gefährliche Liebschaften“ von Choderlos de Laclos entlehnt und ins Reptilienhafte verzerrt: Während sie sich gegenseitig mit ihrem Alter aufziehen, spielen sie alte Konflikte, alte Verführungsgeschichten noch einmal durch, zuweilen mit vertauschten Geschlechterrollen.

Francesconis englische Vertonung hat dabei für sich, dass in der Übersetzung die sprachliche Schärfe und erlesene Obszönität von Müllers Text weitgehend verloren geht und also die Vertonung auch nicht weiter irritiert. Auf Deutsch aber trifft Müllers Text auf eine Musik, die mit den Qualitäten seiner Sprache nicht gut zurechtkommt und sie eher untergräbt als zur Erscheinung bringt.

Mangels anderer Ideen verzerrt Francesconi deren kalte Boshaftigkeit in zugespitzte Ausdruckskurven: Das Böse nimmt nun den Ausdruck von Verzweiflung an. Auch verwundert die Besetzung der Merteuil mit einem Sopran: Zumal in der beeindruckend leuchtkräftigen, unbestechlich intonierten Interpretation der Partie durch Mojca Erdmann entsteht nun eine zweifellos jugendliche Figur, auf die Valmonts Vorwurf „auf Sie ist zu lange kein Regen gefallen“ nicht zu münzen ist.

Dabei sticht der Expressionismus von Francesconis Stimmbehandlung von seiner Orchestersprache durchaus ab. In ihr tritt viel Verfahren, aber wenig sprachliche Eigenart zutage. Dem live spielenden Orchester wird ein aufgenommenes und klangräumlich abgespieltes an die Seite gesetzt – ein interessanter Effekt, der sowohl auf die seltsame temporale Verfassung – „Salon vor der Französischen Revolution / Bunker nach dem dritten Weltkrieg“ – reagiert als auch auf die zahlreichen Spiegel-Metaphern des Textes, die natürlich mit der Benennung des Zwei-Personen-Stücks als „Quartett“ zusammenhängen.

Daniel Barenboim wirkt wie ein Verwalter schönen Klangs

Was zunächst reizvoll und oft geradezu angenehm klingt, erweist sich jedoch schnell als stilistisch wenig markant, auch nicht in seinem elektronischen Arrangement: Wenn bei Valmonts Auftritt ein Cembalo und damit der Klang des Ancien Régime hörbar wird, wenn sich eine Art Walzer-Klang  durchs Orchester schleppt, dann ist der Höhepunkt der tonsprachlichen Konkretion bereits erreicht, um schnell wieder verlassen zu werden zugunsten von Klangflächen, die jedoch nun umgekehrt eine stärkere Abstraktion und Unabhängigkeit vom Text ebenfalls nicht ausbilden. So wirkt Francesconis Musik unentschlossen und ermüdet bald, sie fesselt die Aufmerksamkeit weder durch Struktur noch durch Plastizität. Auch Daniel Barenboim wirkt am Pult der Staatskapelle mit dieser Partitur reduziert auf einen Verwalter schönen Klangs und glatter Abläufe.

Die Regisseurin Barbara Wysocka und ihre Bühnenbildnerin Barbara Hanicka haben einen halb versunkenen Planeten auf die Bühne gebracht, in dessen alsbald nach vorn gedrehtem Inneren ein Paar seine Trennung prokrastiniert. Die Möblierung ist abholbereit, Umzugskisten werden mit letzten Büchern gefüllt. Durch diese Trümmer geistern zwei stumme Frauen, die wohl die jungfräuliche Nichte und die Präsidentin Tourvel darstellen, die Verführungsprojekte der beiden Hauptfiguren; sie ergänzen das Duett von vornherein zum Quartett. Die Doppelbelichtungen, die so entstehen, öffnen den Erinnerungs- und Spielraum, den Merteuil und Valmont mit ihren Reden beschwören. Doppelbelichtungen entstehen auch durch Projektionen von Vogelschwarm bis zur Atombombenexplosion – der Fluss der Musik findet sich im Fließen der Bilder wieder, aber von den Rätseln und vom Unaufgelösten der Inszenierung geht oft ein stärkerer Reiz aus als von der Musik.

Sie liefert auch Begründungen für die Besetzung: Der zynische Ton der auch auf Youtube zu hörenden Interpretin der Uraufführung, Allison Cook, passt grundsätzlich besser zur Merteuil als Mojca Erdmanns mädchenhafte Beflissenheit. Aber der betont private Rahmen des Geschehens gibt der bürgerlichen Expression – die es in Müllers Text nicht, wohl aber in der Vertonung gibt – seinen Anlass und auch dem zuweilen angestrengt klingenden und mit den von ihm verlangten Stimmeffekten betont nicht glänzenden Thomas Oliemans als Valmont: Aus dem Beziehungsspiel wird am Ende doch tödlicher Ernst.

„Quartett“ – Staatsoper Unter den Linden, wieder am 8., 10. und 13. Oktober.