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„Merope“ bei den Innsbrucker Festwochen: Volle Kraft zurück

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So muss es ausgesehen haben: Szene aus der Regie-Rekonstruktion von Sigrid T’Hooft mit Anna Bonitatibus (Merope, v.li.), Vivica Genaux (Trasimede), Arianna Vendittelli (Argia) und David Hansen (Epitide).
So muss es ausgesehen haben: Szene aus der Regie-Rekonstruktion von Sigrid T’Hooft mit Anna Bonitatibus (Merope, v.li.), Vivica Genaux (Trasimede), Arianna Vendittelli (Argia) und David Hansen (Epitide). © Foto: Rupert Larl

Farinelli blieb Legende, sein Bruder fiel durchs Raster. In Innsbruck wird Riccardo Broschis „Merope“ wiederbelebt. Eine Großtat, die auch übers Ziel hinausschießt.

Innsbruck - Als Leibschneider hat man sich den Mann vorzustellen. Nicht fürs prächtige Wams oder das schicke Beinkleid, sondern für die Kehle. Und was konnte der Kunde alles: höher als der Sopran und tiefer als der Bass singen, extrem schnell, auch lang, auf- und abschwellende Töne, und dies ohne Zuschaltung eines Sauerstofftanks. Wer heute die Oper „Merope“ hört, bekommt eine Ahnung davon, was Wunder-Kastrat Farinelli drauf hatte. Mit bürgerlichem Namen hieß der Carlo Broschi (1705-1782), Bruder Riccardo (1698-1756) war fürs passende Vokalfutter zuständig.

Farinelli blieb Legende, Riccardo fiel durchs Raster – obgleich ein angesehener Vertreter der neapolitanischen Oper. Ein Fall für Festivals ist eine Reanimation seiner Werke, kaum fürs Repertoiretheater, insofern haben die Innsbrucker Festwochen der Alten Musik eine Großtat vollbracht (Handlung siehe unten). Die Eröffnungspremiere mit „Merope“ führt dies im Landestheater auf mehreren Ebenen vor: Dirigent und künstlerischer Chef Alessandro De Marchi puzzelte an einer Neuausgabe mit ergänzter Instrumentation. Implantiert wurde wie damals üblich Ballettmusik anderer Komponisten. Und die Regie inklusive Choreografie besorgte Barockspezialistin Sigrid T’Hooft.

Fünfeinhalb Stunden Aufführungsdauer

Man hört, wie es damals geklungen haben muss, und sieht, wie sich die Solisten dazu bewegten. Mit geziert scheinenden Gesten, jede Symbol für einen emotionalen Zustand, auch mit genau gezirkelten Gängen, welche die Bühne wie das Wegnetz eines Barockgartens durchschneiden. T’Hooft, diese Regie-Nische hat sich die Belgierin erobert, holt also im Bereich der historischen Aufführungspraxis das nach, was Dirigenten wie Nikolaus Harnoncourt Jahrzehnte zuvor in der musikalischen Interpretation anstießen.

Ergänzt wird dies durch Stephan Dietrichs Ausstattung, die das barocke Prospekttheater mit ihren dreidimensional bemalten Hängern zitiert und mit teils ausladenden, fantasievollen Roben und Röcken sowie wippendem Feder-Kopfschmuck Augenfutter offeriert. Eine Theatersprache weit vor der psychologischen Durchformung. Und dennoch bedeutet sie in ihrer Affektenlehre so viel mehr als der Colliergriff heutiger Diven.

Man überlässt sich dem gern, trotzdem trägt die Regie nicht den ganzen Abend. In ihrem Forscherdrang sind Alessandro De Marchi und Sänger David Hansen, der den Anstoß für „Merope“ gab und die Farinelli-Partie des wilden Epitide übernahm, weit übers Ziel hinausgeschossen. Die Aufführung dauert, zwei Pausen inklusive, fünfeinhalb Stunden. Nicht zuletzt die Musik und die im dritten Akt schwer leiernde Dramaturgie geben das kaum her. Riccardo Broschi schrieb vokalkundig und effektbewusst, doch fehlt seiner Musik die Fallhöhe, die emotionale Spreizung anderer Barockmeister. Als Melodienerfinder hat er seine Meriten, in der klanglichen Variierung und Ummantelung ist er oft stereotyp.

Keine Stimmbesitzer, sondern Charakterkünstler

Das kann auch an De Marchis Instrumentierung liegen oder an seiner Musizierhaltung. Ein dezenter, zu zahmer Dirigent, ein freundlicher Museumsführer. Das heftig Auffahrende, bei dem Späne fliegen dürfen, ist De Marchis Sache nicht. Doch Broschi braucht diesen Nachdruck, diese Vehemenz, auch den Farbauftrag. Und er bräuchte Musiker, die etwas unangreifbarer spielen als das neu formierte, gleichwohl hochengagierte Innsbrucker Festwochenorchester.

Doch man bleibt dran, weil das Festival nicht nur Stimmbesitzer, sondern Charakterkünstler aufbietet. An der Spitze Anna Bonitatibus als Merope, in derem Aplomb Verletztheit und Introspektion durchklingen: eine weich gefasste Mezzostimme, der die Partie vielleicht einen Ton zu tief liegt. David Hansen hört man die heftige Vokalarbeit an. Anfangs singt er unter Druck, mit wie künstlich geweitetem Countertenor, später gewinnt er an Souveränität, wird trotzdem von den Fachkollegen Filippo Mineccia (Anassandro) und Hagen Matzeit (Licisco) fast ausgestochen. Vivica Genaux tönt als Trasimede etwas stumpf, gestaltet trotzdem sehr ausgeglichen. Arianna Vendittelli singt die im Machtspiel fast untergehende Argia als großdimensionierte, vokal flexible Primadonna in spe.

Der Gau für eine solche Ausgrabung: Jeffrey Francis, als Polifonte vorgesehen, musste absagen. Auf der Bühne agiert Daniele Berardi, im Graben singt Tenor Carlo Allemano. Und dies ungebremst von der barocken Bühnenziselierung, mit Emphase und psychologisch-realistischem Impetus. Jubel und Erschöpfung nach dem zu langen Abend. Wenn schon historische Rekonstruktion, dann richtig – mit Pasta und Vino, die in die Logen gereicht werden.

Die Handlung:
Um an das Königreich seines Bruders Cresfonte zu kommen, will Polifonte diesen und dessen Nachkommen durch Anassandro ermorden lassen. Anassandro war früher Vertrauter von Cresfontes Gattin, Königin Merope, und Betreuer ihrer Söhne. Der Mord gelingt, Merope wird verschont und muss aufs Reich verzichten. Ihr Sohn Epitide ist der Katastrophe entgangen, da er sich auswärts aufhielt. Polifonte will Merope zur Heirat überreden. Sie bittet um eine Frist von zehn Jahren. Sohn Epitide kommt am Stichtag zurück und entmachtet Polifonte.

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