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Der Freischütz. María Fernanda Castillo (Agathe), Chor und Extrachor des Theater Lübeck, Statisterie. Foto: Paul Leclaire
Der Freischütz. María Fernanda Castillo (Agathe), Chor und Extrachor des Theater Lübeck, Statisterie. Foto: Paul Leclaire
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Sturz in die Wolfsschlucht – Biganzoli inszeniert Webers „Freischütz“ in Lübeck

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Carl Maria von Webers hochromantischer „Freischütz“ war in Lübeck angekündigt, inszeniert von Jochen Biganzoli. Er hatte mit Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ (2016) und Schrekers „Der ferne Klang“ (2017) großen Erfolg gehabt, beides weithin anerkannte Theaterereignisse. Auch die jüngste Premiere am 12. Oktober 2018 wurde wieder ein Erfolg, aber ein heftig umstrittener.

Herzpochen

Seit über 60 Jahren war der „Freischütz“ in der Hansestadt nicht mehr zu hören. Die Abstinenz hat einen plausiblen Grund. Eutin, Webers Geburtsort, liegt nur 40 km entfernt und veranstaltet alljährlich Festspiele auf seiner Seebühne. Dort, vor einer Waldkulisse, ist der „Freischütz“ oft und wirkungsvoll zu sehen. Ihn in ein Haus zu holen, ist eine andere Sache, der sich nun Biganzoli mit Lust an der Veränderung stellte. Wichtigste Tat war, alles Gesprochene aus Friedrich Kinds Libretto herauszustreichen, um so weit wie möglich das Zeittypische zu beseitigen. Dass die gesungenen Passagen blieben, war wohl Kalkül, da beim Gesang der Text oft nicht zu verstehen ist. Konsequenterweise gab es ihn auch nicht über die Übertitelungsanlage zu verfolgen.

Für die Lücken zwischen den Gesangsnummern mussten Füller gefunden werden. Einen lieferte ein großer Lautsprecher im Hintergrund der Bühne, aus dem lautes Herzpochen zu vernehmen war. Immer wieder wummda, wummda …, nicht zur Beruhigung, eher dazu geeignet, den Pulsschlag der Zuhörer zu erhöhen. Denn die sollten ganz im Sinne Brechts nicht „so romantisch“ glotzen, sondern beteiligt werden. Deshalb kam Caspar von der Bühne, verteilte Fläschchen mit Jägermeister, ähnlich wie später das Ännchen, die einen Schluck aus ihrer Pulle bot. Um das Gruselige der Wolfschlucht zu mindern, wurde der reiche Bauer Kilian in einen Glitzeranzug gesteckt (Kostüme: Katharina Weissenborn). Als Animateur leitete er das Publikum an, das Zählen beim Gießen der Kugeln zu verstärken. Ein zwischen den Akteuren umherwuselnder Kameramann projizierte die gequälten Gesichter von Max oder Agathe oder die aufgerissenen Augen Caspars riesengroß auf die weiße Hinterwand. Füllend waren zudem weitere Videos (Konrad Kästner) mit Waldansichten von oben oder eine Lektion im Ausweiden eines Rehes. Nach der Pause bot das Theater „Erlebnisplätze“ auf der Bühne, unkostenfrei und mit Speis und Trank, um „Max und Agathe und dem übrigen Personal des ‚Freischütz‘ noch etwas näher“ zu kommen. Der Werbetext beruhigte jedoch: „Und keine Angst: Mitspielen muss das Publikum nicht.“

Angst

Hier ist nun das Stichwort gefallen, das Biganzoli vor allem beschäftigte, die Angst. Riesengroß und rot glitzernd schwebt der Schriftzug über den Szenen (Bühne: Wolf Gutjahr). Max hat Angst, sein Probeschuss könnte misslingen. Agathe hat Angst, ihre Hochzeit könnte platzen. Caspar hat Angst vor Samiel. Und dann sind da noch die mystischen Zeichen, die Freikugeln, das Herabfallen des Bildes, die Totenkrone oder die weiße Taube. Sie ängstigen wie die Natur: der dunkle Wald und die finstere Schlucht mit dem bösen Wolf als Namensgeber.

Drastik

Der erste Teil überbordet vor Aktion. Bereits zur Ouvertüre schwebt Max vom Bühnenhimmel herab, erst starr hängend, dann mit schwebenden Bewegungen, bevor er in ein Bodenloch sinkt. Wenig später kriecht er wieder verzweifelt heraus, um von seinen Versagensängsten zu singen. Der Zuschauer kann der Handlung im ersten Teil gut folgen, weil hier die Ängste personalisiert sind, die von Agathe, die von Caspar oder die der Jäger und ihres Gefolges. Das ist drastisch, glutvoll und sinnlich, verständlich selbst in der deftigen Szene zu Ännchens vergnügter Ariette „Kommt ein schlanker Bursch gegangen“, bei der sie sich gleich mit Dreien vergnügt. Ein Teufelsweib ist sie, durch Goldstaub und Jägermeister mit Samiel verbunden.

Soweit ist die Interpretation nachvollziehbar, gedeckt durch Friedrich Kinds Text und Carl Maria von Webers wunderbarer Musik. Aber Jochen Biganzoli genügte das nicht. Er dachte weiter, wollte hinter dem Wald und den Eichen die Romantik, die Kunst, das Deutsche als vermeintliche Kennzeichen des Nationalcharakters beweisen, das Überregionale und die politische Konnotation entdecken und alles ad absurdum führen. Dazu setzte er im zweiten Teil Angela Merkel und den Papst, Mesut Özil und die Atomwaffengegner als Pappfiguren auf die Bühne oder in den Zuschauerraum. Aktivisten und Parkett sollten sich wieder einmal vereinen, Symbol dafür ein umlaufendes Band senkrechter Leuchtstäbe, das von der Bühne zu den Balustraden führte.

Statik

Die Opernaufführung kippte um zu einer Psychopolitanalyse, wurde trotz Ännchens Alkoholexzess und der internationalen Maskerade beim Jägerchor statisch. Dieser Teil, der vor allem den Probeschuss als Zentrum hätte, (der hier aber nie geschieht,) wirkt wie eine szenische Kantate, verstärkt durch die Enge, die die Zuschauer an Biertischen und Bierbänken auf dem Bühnenraum verursachen. So entschwinden einige Personen wie Fürst Ottokar und Erbförster Cuno auf den Rang, singen von dort und nehmen mit Rundumklang das Publikum in die Zange. Aber die Lücken zwischen den Musikteilen ziehen sich. Merkel ist mit ein paar Sätzen einer Neujahrsansprache zu hören; die Brautjungfern als Hostessen führen eine langwierige Befragungsaktion durch; auch ein Einbürgerungstest wird eingefügt und Fetzen von Stimmen über Ängste aller Art sowie das Herzwummern, ein Leitmotiv.

Was bleibt

Vieles im Konzept wirkte sinnvoll, manches wie eine Gagshow mit Details aus früheren Inszenierungen. Dennoch stehen oder sitzen die Akteure im zweiten Teil viel herum, die Inszenierung verliert sich. Die erregten Buhs zum Ende galten deshalb der Regie und waren verständlich, der brausende Beifall für die sängerischen und darstellerischen Leistungen ebenso. Die stammten von einem höchst harmonisch miteinander agierenden, dabei international zusammengesetzten Ensemble, für das im Kooperieren Angst kein Thema ist. Die bezaubernde Mexikanerin María Fernanda Castillo, die ihrer Agathe eine warme, fein klingende Stimme gab, ist neu im Ensemble. Andrea Stadel, schon oft für ihre komödiantische Spiellust und treffliche Sangeskunst bewundert, meisterte mit Anstand die schrägen Aufgaben. Tobias Hächler war in Stimme und Statur ein höchst agiler und passender Max. Dem Caspar gab der in Kiew geborenen Taras Konoshchenko mit seinem beweglichen Bass und rollenden Augen eine finstere Erscheinung und auch der Cuno von Lucas Kurt Kunze besaß Bassgewicht. Steffen Kubach hatte als Kilian einen glänzenden Auftritt, auch die Brautjungfern Claire Austin, Angela Shin, Iuliia Tarasova und Ina Heise. Sie bildeten ein hörenswertes Quartett. Der Schotte Gerard Quinn als Ottokar war wie eh und je zuverlässig. Minhong An, Koreaner und Mitglied im Opernelitestudio, war stimmlich noch zu jung, den Eremiten vor dem Bundesadler ganz zu präsentieren. Den Chor hatte Jan-Michael Krüger für seine Auftritte sicher vorbereit, so dass die Männer ihr unvergleichliches Jägervergnügen sogar zu wiederholen aufgefordert wurden.

Das musikalische Fundament schufen Andreas Wolf mit Präzision und die Lübecker Philharmoniker mit feinsinniger wie sensibler Klangschönheit. Schade, dass so viele Premierenbesucher den verwirrenden Widerspruch nicht anregend fanden. 

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