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Foto: Thilo Beu
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Alfried Krupp, der Erdgeist – Marschners „Hans Heiling“ in Essen

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Industriekultur und romantische Oper total: Regisseur Andreas Baesler und Dirigent Frank Beermann verlegen Heinrich Marschners „Hans Heiling“ vom böhmischen Erzgebirge an die Ruhr. Aus dem Thronfolger der Erdgeister wird ein Krupp-Erbe, der kurz vor dem Niedergang der Zechen kein Liebesglück findet. Am Aalto-Theater Essen tritt „Hans Heiling“ legitim aus dem Schatten Richard Wagners. Eine spannende, bewegende Produktion!

Mutter Gertrude sorgt sich um ihre Tochter „Anneke“, die ganz allein unterwegs ist, und beruhigt sich mit einem Edgar-Wallace-Krimi aus der Glotze. Oder so etwas Ähnliches, auf alle Fälle in Schwarzweiß. Das blitzblanke Interieur verheißt proletarische Gemütlichkeit. Bettina Ranch spricht, summt und singt ihr von der Musikgeschichte als zukunftsweisend gerühmtes Melodram also nicht am Spinnrad. Das ist eine der wenigen Stellen, in der sie auf Hochdeutsch redet und nicht in jenem Ruhrdeutsch, in das Hans-Günter Papirnik die Dialoge aus Eduard Devrients Textbuch umwandelte: Bestimmt war dieses erst für Felix Mendelssohn Bartholdy, wurde dann aber vom „Vampyr“-Komponisten Heinrich Marschner vertont und in Berlin 1833 uraufgeführt.

Anders als bei der Koblenzer Produktion des „Vampyr“ 2017, die das Opus zur Musical-Schmonzette machte, setzt Regisseur Andreas Baesler an der Aalto-Oper nicht auf Ironie, sondern liebevollen, fast nostalgischen Ernst. Er und der raritätenerfahrene Frank Beermann (er entdeckte für die Oper Chemnitz zum Beispiel „Il templario“ und „Die Heimkehr des Verbannten“ von Otto Nicolai, ebenso wie Marschner ein Komponist an der Schwelle zwischen Frühromantik und Neuer deutscher Schule) finden in dieser „romantischen Oper“ legitim und sorgfältig eine spezifische Form des Gesamtkunstwerks; eines Gesamtkunstwerks nicht durch einheitliches Kolorit, sondern durch Vielfalt und Kontraste zwischen Liedern und großformatigen musikalischen Szenen. All das, was Richard Wagner von Marschner als die eigene Genialität fördernden Errungenschaften kopiert und übernommen hatte, wird in Essen nicht verschämt unterspielt, sondern deutlich ausgestellt. Die von Marschner bevorzugte Mischung der Genres hatte er ja bekanntermaßen von Carl Maria von Weber gelernt, der in seinem „Freischütz“ vormachte, wie man möglichst viele beliebte Muster zum erfolgsträchtigen Patchwork vereint.

Straff, sensibel, dynamisch, bewegend

Es ist erstaunlich, wie plausibel die aus dem böhmischen Erzgebirge nach Essen verlegte Opernsage am neuen Schauplatz aufgeht. Die immer mehr ausgekargte Zechenhalle wirkt wie eine Reminiszenz des Bühnenbildners Harald B. Thor an Richard Peduzzis Fabrikhalle in Patrice Chéreaus Bayreuther Jahrhundert-„Ring“. Hans Heiling, König der Erdgeister, steigt nicht aus Liebe zum „Anneken“ zu den Menschen hinauf, sondern als Erbe der Dynastie Krupps aus der altdeutschen Düsternis der Villa Hügel zu den Feiern der Kohlekumpels hinaus. Er und das ihn immer mehr fürchtende „Anneken“ haben beide überprotektive Mütter: Die mit lauteren Absichten kuppelnde Gertrude will das Beste für ihr Mädchen und zwingt sie mit sanfter Gewalt zum sozialen Aufstieg, also zu Hans Heiling. Bertha Krupp, alias Königin der Erdgeister, will das Beste für ihr Kind Hans und muss diesen als Sohn und Erben in der eigenen Edelsphäre festspießen wie einen Schmetterling hinter Glas. Das Beste daran, wenn man folgerichtig weiterdenkt: Hans Heiling und die Zechenarbeiter sind keine sozialen Gegner, sondern ziehen an einem Strang gegen die drohenden Schließungen, die mit an Galgen hängenden Zechenschutzkleidungen ihre Schatten vorauswerfen.

Hochkarätig!

Die behutsame Einrichtung der Dialoge verlegt das Volksfest, zu dem der liebessehnsüchtige, aber menschenscheue Erdgeist Hans Heiling seiner fröhlichen Anna folgt, vom Florianstag (4. Mai) auf das Fest der Bergwerkheiligen Barbara (4. Dezember). Diese Milieustudie und die tollen Kostüme von Gabriele Heimann zeigen den Übergang von Trachten- und Arbeiterstolz und den Ruhradel auf der Rutschbahn nach unten mit der Detailfreude eines Dokumentarfilms. Nur die Emotionalität des Regisseurs ist noch größer als die Begeisterung für das Sujet. Auch der Aufmarsch des Bergwerksorchesters Consolidation mit dem Steigermarsch, der ebenso für den Originalschauplatz wie für den Ruhrraum gültigen Bergmannshymne, ist bei diesem Operngenre absolut legitim. Das Sujet nach einem phantastischen Spannungsroman von Christian Heinrich Spieß verträgt sogar eine Portion Satire: Rebecca Teem, die von Königin der Erdgeister zur Kruppschen Matrone wird, zeigt gegenüber ihrem hünenhaft großen Sohn Hans mit lauten Spitzentönen patriarchalische Autorität, die an Heinrich Böll denken lässt und sogar an Loriots „Ödipussi“.

Ideale Übereinstimmung

Mit dem schlichtweg mustergültigen Bariton Heiko Trinsinger und der durch unerschöpflich substanzreiche Lyrik bewegenden Sopranistin Jessica Muirhead hat das Ensemble zwei imponierend starke Mittelpunkte. Aber auch der diesmal etwas trockene und ungewohnt schmal konditioniert wirkende Nebenbuhler Konrad von Jeffrey Dowd passt in diese Produktion.

Denn Musik und Szene sind in derart idealer Übereinstimmung, dass Marschner hier endlich zu seinem Recht kommt. Hochkarätig! Die Essener Philharmoniker und der durch die Einstudierung von Jens Blingert auf beglückende Präsenz getrimmte Opernchor des Aalto-Theaters zeigen ein reiches Farbspektrum. Keine Grobheit, dafür federnde Bodenhaftung. Den Walzer des Barbarafestes durchmischen sie mit Seelendüsternis, bringen Emotionen in motorische Bewegungen. Marschner klingt hier richtig, nämlich straff, sensibel, dynamisch, bewegend. Das Ensemble legt alle Qualitäten Marschners frei und versteht die genrehaften Singspielszenen nicht als Schwächung, sondern als Bereicherung. So wird „An jenem Tag“, Hans Heilings große Arie an Anna, durch Heiko Trinsinger zum jede Überpointierung meidenden Musterexempel für ideale Deklamation und richtig dosiertes Melos. Im Orchester gibt es bis zur Jubelcoda keinen einzigen floskelhaften oder spannungslosen Akkord: Frank Beermann und Andreas Baesler generieren aus dieser romantischen Oper ein Regionalfestspiel mit einer Begeisterung, als ginge es mindestens um „Die Meistersinger von Nürnberg“. Sogar in denen finden sich bei genauem Hinhören noch Spurenelemente aus Marschners „Hans Heiling“.

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