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Endlich allein! David Arnsperger als Samuel Cooper. Foto: Birgit Hupfeld
Endlich allein! David Arnsperger als Samuel Cooper. Foto: Birgit Hupfeld
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Die Durchökonomisierung des Privaten – Kurt Weills Musical „Love Life“am Theater Freiburg

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Kurt Weills wiedergewonnene Popularität als Songkomponist steht in einem erstaunlichen Missverhältnis zur Unkenntnis seines Musiktheaterschaffens. Während das Kurt-Weill-Fest in Dessau sich an eine Wiederauflage der unverwüstlichen „Dreigroschenoper“ macht, hat die offizielle deutsche Erstaufführung von Weills Musical „Love Live“ am Theater Freiburg schon im Dezember stattgefunden – knapp 70 Jahre nach seiner Uraufführung am Broadway –, wurde aber überregional kaum gewürdigt. Dabei sind „Dreigroschenoper“ und „Love Life“ näher beieinander, als 20 Jahre Abstand und die erzwungene Emigration naheliegen.

Die reservierte Haltung gegenüber Weills amerikanischen Werken rührt wohl immer noch aus der Klischeevorstellung, der Brecht-Komponist habe sich in den USA „an den Broadway verkauft“. Dabei enthält die „Dreigroschenoper“ bei genauem Hinsehen deutlich mehr Unterhaltung, als man denkt, und „Love Life“ mehr bissige Gesellschaftskritik als erwartet. Beiden gemeinsam ist, was der Komponist einmal als „ernst gemeinte Ironie“ bezeichnete – ein doppelbödiges Spiel mit Rollen und Haltungen, das menschliche und gesellschaftliche Unvollkommenheiten deutlich hervortreten lässt.

Ausgesprochen modern

Ausgesprochen modern für die Gattung Musical und auf längere Sicht auch stilbildend war 1948 in „Love Life“, was der Weill-Experte Stephen Hinton „dramaturgischen Kontrapunkt“ nennt: Weill und sein Librettist Alan J. Lerner erzählen nicht eine lineare Handlung, sondern – als theatralische Versuchsanordung – ein familiäres Stationendrama, das in eingelegten Revue-Nummern kommentiert wird. Unter Anspielung auf eine alte US-amerikanische Spektakelgattung, die schon in den 1920er Jahren durchs Kino verdrängt wurde, nannte Weill das Stück ein „Vaudeville“. Ein wenig praktizierte er hier womöglich kulturelle Mimikry. „Love Life“ ist nämlich gar nicht so weit weg von der Berliner Handlungsrevue der frühen 1930er Jahre, und Alan J. Lerners Dialog- und Songtexte, die der Freibruger Chefdramaturg Rüdiger Bering sehr gelungen ins Deutsche übersetzt hat, erinnern unweigerlich an die großen Schlager- und Operettentexter der Zwischenkriegszeit in Berlin und Wien – von Marcellus Schiffer bis zu Fritz Löhner-Beda.

1943 hatte Weills eher avantgardistisch orientierter Komponistenkollege Elliott Carter die Diagnose gestellt, Weills sozialer Horizont sei in New York „zum Schlafzimmer geschrumpft“. Doch anders als der Titel „Love Life“ suggeriert, entpuppte sich Weills neues Musical 1948 vor allem als satirisch zugespitzter sozialhistorischer Längsschnitt zum Familienleben der letzten 150 Jahre. Objekt der Studie ist das Ehepaar Samuel und Susan Cooper mit seinen beiden Kindern Johnny und Elizabeth, das aus Gründen der Vergleichbarkeit kaum altert – d.h. gerade so weit, dass sie in der finalen Ehekrise ein Damals von einem Heute unterscheiden können. Es gibt allerdings eine Schlafzimmerszene, betitelt „Mayville 1857“. Hier versucht Susan ihren Ehemann zu verführen. Sie wünscht sich ein drittes Kind, aber Samuel ist erstens zu müde, und zum zweiten stellt er fest, dass er im Umkreis des angenommenen Geburtstermins gar nicht daheim sein wird. Seine beruflichen Verpflichtungen bei der Eisenbahn bedingen eben lange Auswärtstätigkeiten. Eingeleitet wird die Szene von einem Männerquartett mit dem immergleichen Refrain: „That's good economics, but awful bad for love.“ – Was sich wirtschaftlich rechnet, schadet der Beziehung.

Angefangen hat die Geschichte 1791 im ländlich-sittlichen Mayville, als Samuel Cooper die dortige Schmiedewerkstatt übernimmt und von der Dorfgemeinschaft freundlich aufgenommen wird. „Ich bleibe hier“ („Here I'll stay“) singt er heimat- und familienverbunden – eine Melodie, die im folgenden des öfteren und nicht selten ironisch zitiert wird. 30 Jahre später mündet der Tanz in den Mai mit den Nachbarn in den ersten Arbeitstag in der nahen Fabrik. Sams berufliche Karriere führt ihn dann über die Eisenbahn weiter in eine Dienstleistungsagentur, während sich Susan als Frauenrechtlerin engagiert. Die fortgeschrittene Entfremdung des Ehepaars wird auf einer Kreuzfahrt in den 1920ern deutlich, auf der sich Sam bei potentiellen Kunden anbiedert – „Ich bin Ihr Mann“ („I' am your man“) – , während die alleingelassene Susan mit einem netten Passagier anbandelt. Die Szene wirkt wie eine frühe Illustration zu Richard Sennetts Kapitalismus-Analyse „Der flexible Mensch“ von 1998.

Doch noch einmal findet das Ehepaar zusammen. 1948 ist auch Susan berufstätig, aber die gemeinsamen Abende verbringt die Familie am Radio, und dies nicht ohne Streit um das Programm am einzig verfügbaren Apparat. Nach dessen Ausfall hat man sich nichts mehr zu sagen: Die Kinder gehen zu Freunden, die Eltern in getrennte Schlafzimmer. (Heute wäre es einfacher: Jeder säße am eigenen Smartphone.) Wenig später haben sich Susan und Sam wirklich getrennt. In einer ausgedehnten Arie versucht Sam, sich an der wiedererlangten Freiheit zu berauschen („So soll das Leben sein!“) , doch die Einsamkeit treibt ihn per Zufall in eben die gleiche Minstrel Show wie seine unglückliche Ehefrau. Deren Zauberer versetzt die beiden in die gleiche ungemütliche Situation, mit der das Stück begann: Samuel hängt buchstäblich und symbolisch in der Luft, Susan ist – nach einem Sägetrick – zweigeteilt. Die auf die beiden gerichtete Aufmerksamkeit und ihr Vorgeführtwerden erinnern an heutige Talkshows. Der Zauberer verspricht Glück durch Illusionen, doch weder Miss Horoskop noch Miss Esoterik, weder Mr. Zynisch noch Miss Märchenprinz bieten eine Perspektive. Susan allerdings verliert sich in einer ausgedehnten Fantasie über „Mr. Right“; erst die Erkenntnis, dass auch der nicht mehr ist als eine Illusion, holt sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Was Samuel und Susan als Chance bleibt, ist ihr eigener Drahtseilakt: Am Ende balancieren beide vorsichtig aufeinander zu.

Vielfalt musikalische Stile und Ausdrucksweisen

Weills Partitur, die erst seit November 2017 als Bestandteil der neuen Weill-Gesamtausgabe erhältlich ist, vereint eine Vielfalt musikalische Stile und Ausdrucksweisen. Wenn wir dem Freiburger Programmheft folgen, das ebenso wie die Aufführung selbst von der Beratung des „Love-Life“-Herausgebers Joel Galand profitieren durfte, finden sich „schottische Polka, Holzschuh-Walzer, Ragtime, Jump Blues, die alte Form des Madrigal, Soft-Shoe-Nummern, Balladen, Liebeslieder, große Arien und sogar eine nordamerikanische Banjo-Volksmusiknummer“. Weill setzt die Musik gezielt ein, um lokales und historisches Kolorit, soziale Position oder innere Haltung zu charakterisieren, und entwickelt damit ein Konzept weiter, das er bereits in seiner Brecht-Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ anwandte. Auch dort begegnen sich bereits Foxtrott und Trauermarsch, Bach'sches Choralvorspiel und Wiener Heurigenmusik je nach szenischer Aussage. Besonders hervor sticht in „Love Life“ die ironische Madrigal-Parodie „Ho Billy, oh“. Ob sie nun eher die psychoanalytisch übertherapierte New Yorker Bildungsschicht oder die heile Welt der Alte-Musik-Bewegung aufs Korn nimmt oder gar beides, bleibt eine interessante Frage, auf die Joan Anton Rechis Freiburger Inszenierung nicht wirklich eine Antwort gibt.

Regisseur Rechi, Bühnenbildner Alfons Flores und das Videoteam „Projekt 2“ illustrieren „Love Life“ reichlich mit eingeblendeten Filmzitaten – sei es „Vom Winde verweht“ oder „Modern Times“; in der Eingangs- und Schlusszene ist die ganze Bühne sogar mit Figuren aus dem „Zauberer von Oz“ bevölkert. Damit wird ein Stück mit einem Zuckerguss von Nostalgie überzogen, in dem die Autoren doch – angefangen vom Acht-Männer Ballett „Fortschritt“ – im Gegenteil die kapitalistische Idee von Zukunft aufs Korn nehmen. Und was eine allgemeine Erscheinung der westlichen Industriegesellschaft ist, schrumpft hier zum Amerika-Klischee zusammen. Theatergeschichtlich steht „Love Life“ ohnehin dem alten Thespiskarren und dem barocken Maschinentheater näher als der Traumfabrik von Hollywood; es lebt nicht vom Zelluloidstreifen, sondern von der Präsenz der Darsteller, von charakteristischen Requisiten und verblüffenden Bühnentricks.

Intensiv ausgespielte Szenen – witzige Dialoge

Doch trotz dieser unglücklichen Überformung gelingen immer wieder intensiv ausgespielte Szenen, witzige Dialoge und abwechslungsreiche Choreographien, die das Potential des Stückes deutlich erkennen lassen. Hilfreich ist auch die Übertitelung, die über die eine oder andere Undeutlichkeit des Textes hinweghilft. Kaum eine Pointe entgeht dem Publikum. Parallel entsteht und wächst aber auch das Problembewusstsein angesichts einer Entwicklung, die der neue Grünen-Vorsitzende Robert Habeck in seiner wachen Kieler Parteitagsrede gerade erst präzise als „Durchökonomisierung des Privaten“ bezeichnet hat. Sitzen wir nicht in derselben Versuchsanordnung wie das unglückliche Ehepaar Cooper? Den beiden gilt am Ende alle Sympathie. David Arnsperger und Ulrike Hallas überzeugen durch intensive, abwechslungsreiche, nuancierte Auffassung ihrer Rollen und Gesangspartien, und um sie herum gruppiert sich in vielfältiger Durchmischung ein Riesenensemble, das sich mit großem Engagement, beachtlicher Sicherheit und hohem Unterhaltungsfaktor dem Publikum nachhaltig empfiehlt. Bemerkenswert ist auch die Souveranität, mit der das Philharmonische Orchester Freiburg unter seinem Kapellmeister Johannes Knapp die stilistische Bandbreite der Partitur meistert.

„So kann Musical auch sein!“

„So kann Musical auch sein!“ 1948 reagierten so der damals 30-jährige Musical-Regisseur Harold Prince und der 28-jährige Komponist Stephen Sondheim auf den Besuch von Weills „Love Life“. (Rüdiger Bering hat darüber im Dezember im Rahmen einer WDR-Sendung zur Freiburger Produktion berichtet.) Dann verschwand das Stück von der Bühne. Ein Streik der Tontechniker verhinderte die damals bereits üblichen Tonaufnahmen, und zwei Jahre später erlag Kurt Weill einem Herzinfarkt. Erst 1986 kam es wieder zu einer Aufführung an der Musikhochschule der Universität Michigan. In Deutschland wagte sich 2000/2001 die Berliner Hochschule der Künste an den „Tryout der deutschen Erstaufführung“. Dramaturg war damals Rüdiger Bering. Vor allem ihm dürfte 17 Jahre später nun die offizielle deutsche Erstaufführung zu danken sein. Respekt!

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