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Foto: Lutz Edelhoff
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Alban Bergs „Wozzeck“ in Erfurt – bemerkenswert zeitlos, latent konventionell, und doch eindringlich

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Was eigentlich ist ein guter Mensch? Und wann wird einer zum Mörder? Ist der selber schuld oder sind es „die Anderen“? Was ist Moral? Hat das mit Menschlichkeit zu tun? Oder eher mit Unterdrückung? „Moral: das ist, wenn man moralisch ist!“, erklärt der Hauptmann dem armen Teufel, der ihn rasiert. Der moralische Kompass dürfte in der Zeit Büchners genauso unverlässlich gewesen sein wie in der Zeit Bergs, der Zeit zwischen den größten Menschheitsverbrechen.

Heute sieht die Sache wenig besser aus im Angesicht kollidierender gesellschaftlicher Triebkräfte, die die Magnetnadel menschlicher Orientierung vollends ins Rotieren gebracht haben, in dem sie die Bedeutung des Faktischen für sich in Anspruch nehmen und damit zur Propaganda degradieren. Was findet draußen statt, was nur im Kopf? An welchem Ort setzt „Wirklichkeit“ an, und wo beginnt der Wahnsinn?

Was Alban Bergs wegweisendes Operndrama, diese einfach kongeniale Komprimierung von Büchners „Woyzeck“ zum mitleidenden Musiktheater, in Zeiten wie diesen an gesellschaftlichem Sprengstoff und politischen Deutungsversuchungen anbietet, muss kaum eigens betont werden. Doch um es gleich vorwegzunehmen: An der Erfurter „Wozzeck“-Premiere unter der Regie von Enrico Lübbe hätten die Verächter des ominösen „Regietheaters“ ihre helle Freude gehabt. Lange nicht mehr hat man eine Operninszenierung so frei von kritischen Aktualitätsbezügen, aber eben auch eitler Willkür gesehen wie an diesem Abend in Erfurt. Dieser „Purismus“ war schon fast haarsträubend, ergab im Falle von Bergs Büchner-Adaption aber durchaus Sinn. Die ist in der Darstellung einer maroden Gesellschaft und ihrer Mechanismen von Macht und Ohnmacht so bildhaft und überzeitlich, dass jeder „Zeitbezug“ schnell überflüssig, ja entmündigend wirken kann. Dennoch präsentierte Lübbe keinen „Wozzeck“ aus der Mottenkiste. Die Problematik der Regie war eine andere.

Man ist daran gewöhnt, dass auf der Opernbühne keine darstellerischen Höhenflüge zu erwarten sind, aber vom gestandenen Theater-Mann Lübbe, Intendant am Schauspiel Leipzig, hätte man doch mehr Theater erwartet: verstörendere Situationen, ambivalentere Begegnungen, vielschichtigere Personenzeichnungen, mehr Intensität, mehr Ideen – mehr Leben. Vor allem was die Ausgestaltung der bei Büchner wie Berg so immens expressiven Sprache betrifft, gab es Defizite, die umso schwerer wiegen als Bergs Adaption über weite Strecken mit verschiedensten Formen sprachlicher Artikulation jenseits des Gesangs agiert, um Büchners Drama so nah wie möglich zu sein.

Da gab es außer den üblichen Typisierungen der Hauptfiguren wenig Überraschendes, die angestrebte Vielschichtigkeit und Ambivalenz aller Beteiligten (zwischen Opfer und Täter, Ohnmacht und Schuld), kam selten einmal zwingender zur Sprache. Sehr überzeugend: Erik Biegel, der die Hypochondrien seines Hauptmanns genauso verhetzt durch die sarkastischen Dialoge trieb wie dessen Gehässigkeit; die zynische Arroganz des Doktors (Vazgen Gazaryan) blieb da vergleichsweise blass. Auch Marie hätte man sich zerrissener, widersprüchlicher vorstellen können, Stéphanie Müther bewältigte die schwierige Partie jedoch sängerisch bravourös, ungemein kraftvoll, auch in Momenten höchster Dramatik klar und bezwingend. Máté Sólyom-Nagy gab mit vollem Körpereinsatz als qequälte Kreatur am Rande des Wahnsinns alles und wurde für seine emphatische Darstellung des armen Wozzeck zurecht gefeiert!

Einen ganz wesentlichen Anteil an der Eindringlichkeit der Erfurter Inszenierung hatte die Bühne von Etienne Pluss! Er löste das Problem der schnellen Bildwechsel auf so geschickte wie sprechende Weise mit einer Drehbühne, die die einzelnen Szenen in karge Zellen steckte, deren schmutzige Beton-Tristesse die existentielle Not ihrer Bewohner konsequent trostlos verräumlichte. Ein düsterer Weltlauf, wo jedes Rädchen im Getriebe die ihm zugewiesene Neurose, Einsamkeit und Unzulänglichkeit in seiner sozialen Nische kultivierte.

Dabei wurde einfallsreich und differenziert mit wechselnden Lichtsituationen (Torsten Bante) gearbeitet, die egal ob in Zimmer, Kneipe oder Mondnacht, es darauf anlegten, mit harten Neontönen die „soziale Kälte“ auszuleuchten. Für die opulente Wirtshaus-Szene erfand Pluss einen schiefen, rechteckigen Guckkasten, in der das besoffene Party-Geschehen wie eine abstrakte Filmsequenz ablief, die Wozzeck von außen betrachtete – „Wirklichkeit“ und „Vision“ verschwammen in einer aus den Fugen geratenen Wahrnehmungsschräge (interessante Video-Beteiligung der Bauhaus-Uni Weimar!), bis zum endgültigen Filmriss. Weiterer Clou der Licht-Regie: Die obligate Lächerlichkeit eines jeden Bühnen-Mordes wurde elegant umschifft, indem im Moment der Tat das Publikum von einem gleißenden Scheinwerfer geblendet wurde, der jede Sicht unmöglich machte und – physisch durchaus unangenehm – die Zerstörungsenergie des Vorgangs gleichsam als explosive Elementarphysik erlebbar machte (analog zur monumentalen „Orchester-Überleitung über den Ton H“).

Auch musikalisch verdichtete der Erfurter „Wozzeck“ manch berückenden Augenblick und zeigte eine durchweg differenzierte Ausleuchtung von Bergs grandios einfallsreicher Musik, die sich so klanglich unmittelbar wie labyrinthisch konstruktiv in den dramatischen Dienst von Büchner stellt. Es war GMD Joanna Mallwitz – seit nunmehr drei Jahren ein unschätzbarer Gewinn für Erfurt, auch im Hinblick auf das zeitgenössische Repertoire! – anzumerken, dass sie nicht irgendeine Musik dirigierte, sondern eine der bedeutendsten Partituren der Moderne. Das Herzblut, mit dem sie jede Klangfaser dieser in jedem Moment existentiellen Musik ausmodellierte, war mit Händen zu greifen. Großes Kompliment an das Erfurter Orchester, das Bergs feingliedrig psychologisierendes Netzwerk nuancenreich bis in hinterste Winkel folgte. Mallwitz’ Feuereifer fand im Orchester aber nicht immer einen Wiederhall auf Augenhöhe; der suggestive Expressionismus von Bergs Musik hätte gelegentlich mehr Intensität, seine Ecken und Kanten einen beherzteren Zugriff vertragen. Das Riesen-Crescendo am Höhepunkt des 3. Aktes war laut, aber nicht gewaltig, der betörend spätromantische Orchester-Epilog glühte, verbrannte aber nicht, die vielen stilisierten Walzer, Volkslieder, Militär- und Wirtshausmusiken, die Klänge der „armen Leute“ gerieten ein wenig zu brav, um ihre ganze gebrochene Abgründigkeit zu entfalten (leider blieben auch die Bühnenmusiken größtenteils der Bühne fern).

Dennoch: Unterm Strich sah man sich mit einer eindrucksvollen, atmosphärisch dichten „Wozzeck“-Premiere konfrontiert, die die überregionale Bedeutung des Erfurter Hauses einmal mehr unterstrich! Sie fand in einem bewegenden Schlussbild ihr Ende, wo die Kinder einer kaputten Welt mit unschuldigem Eifer zur Leichenschau eilen. Gekleidet in die Kostüme der Hauptfiguren, verabschiedeten sie sich als die Opfer und Täter von Morgen ...

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