Hauptbild
Weinbergs „Passagierin“ in Gelsenkirchen. Foto: Forster
Weinbergs „Passagierin“ in Gelsenkirchen. Foto: Forster
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Klare Botschaft, starke Emotionen: Mieczyslaw Weinbergs Oper „Die Passagierin“ in Gelsenkirchen

Publikationsdatum
Body

Der Auftrag, „dass niemals vergessen werde“, was sich mitten im 20. Jahrhundert, inmitten einer Gesellschaft, die sich auf ihre hohe Kultur etwas einbildete – dieser Auftrag sich zu erinnern ist die wesentliche Botschaft, die in der Literatur, in der bildenden Kunst und gerade auch in der Musik nach dem Zivilisationsbruch Auschwitz steckt. Mit Mieczyslaw Weinbergs Oper „Die Passagierin“ steht nun im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier ein Werk auf dem Spielplan, das auf besonders eindrucksvolle Weise die Erinnerung an die Gräuel der Nazis und den millionenfachen Tod von Menschen wachhalten kann.

Am Ende, als Zofia Posmysz auf die Bühne kam, erhob sich das Publikum im Gelsenkirchener Musiktheater spontan von den Sitzen und spendete ihr Standing Ovations. Zuvor hatte sich der Vorhang gesenkt nach der bewegenden Premiere der Oper „Die Passagierin“ des Komponisten Mieczyslaw Weinberg. Ihr zugrunde liegt die gleichnamige Novelle der 1923 in Krakau geborenen Zofia Posmysz. Die Autorin und Journalistin war zweieinhalb Jahre im KZ Auschwitz-Birkenau interniert und ist heute eine der letzten Zeitzeugen der unsäglichen Verbrechen. Genau um diese geht es in Weinbergs Oper, die schon 1968 fertiggestellt, aber erst 2006 in Moskau konzertant aufgeführt wurde. 2010 schließlich präsentierten die Bregenzer Festspiele die szenische Uraufführung, 2015 konnte man „Die Passagierin“ in der Oper Frankfurt erleben. In Gelsenkirchen nun war es Regisseurin Gabriele Rech, die das abendfüllende Werk neu auf die Bühne brachte und dafür gemeinsam mit allen Beteiligten uneingeschränkte Zustimmung erfahren durfte.

Posmysz erzählt und Weinberg vertont eine fiktive Geschichte: der Diplomat Walter und seine Frau Lisa befinden sich Anno 1960 auf einem Luxus-Schiff. Lisa beobachtet eine mitreisende Passagierin, die sich ziemlich bald als Marta entpuppt – eine in Auschwitz Inhaftierte, die dem Tod entkam. Lisa war, was ihr auf eine gute Karriere im fernen Brasilien spekulierender Gatte bislang nicht wusste, damals Oberaufseherin, natürlich eine ganz „ehrliche Deutsche“, die „nur ihre Pflicht getan hat“, wie Lisa beteuert. Ihr mörderisches Verhalten holt sie nun auf der Schiffsreise ein.

Gabriele Rech schafft es in dem genialen Einheitsbühnenbild von Dirk Becker und in Renée Listerdals Kostümen, diese beiden zeitlichen Ebenen intelligent zu verschränken. Anfangs eine mondäne Schiffs-Lounge mit gut ausgestatteter Bar, verwandeln sich die meterhohen Bühnenwände zu einem Hintergrund, vor dem geprügelt und gefoltert wird: das KZ in Auschwitz. Fast wie in einem Dokumentarfilm (und für die in ein schickes Abendkleid gewandete Lisa als entlarvender Rückblick wirkend) wird die grausame Lagerrealität abgebildet, Lisa wird sich ihrer Schuld mehr und mehr bewusst, die Erinnerung lässt sich nicht länger verdrängen.

Es gibt zutiefst anrührende Szenen in diesen drei Opern-Stunden. Etwa die (verbotene) Begegnung zwischen der inhaftierten Marta und ihrem Verlobten Tadeusz; oder der erzwungene Auftritt Tadeusz‘ als Geiger vor den Lager-Kommandeuren, denen er ihre Lieblingsmelodien vorspielen soll – und dann zu deren Entsetzen die Bach-Chaconne auf seine Saiten legt. Leidensgenossin Katja singt ohne jegliche Begleitung ein Volkslied aus ihrer russischen Heimat – und unter den Premierengästen im Theatersaal macht sich eisige Stille breit. Eine andere Mitgefangene zündet eine Kerze an und beginnt ein Gebet zu Gott. Ja, die Frage nach Gott – die stellt sich natürlich auch. Ist er womöglich noch einmal Mensch geworden und hat sich als Rauch durch die Schornsteine der Verbrennungsöfen geschlängelt?

Gabriele Rech legt eine stille, unaufgeregte Inszenierung vor und kann sich durch und durch auf Sängerdarstellerinnen und -darsteller verlassen, die ihre Rollen absolut verinnerlicht haben und mit größter Glaubwürdigkeit verkörpern, ja ausleben. Weinberg, 1919 in Warschau geboren, 1939 nach Moskau geflohen und dortselbst 1996 gestorben, schreibt dem Solisten-Ensemble, dem (hier in einem der oberen Ränge des Hauses platzierten) Chor wie dem Orchester eine erschütternde Musik. Geradezu körperlich spürbar wird sie, obgleich sie selten einmal laut oder lärmend wird. Im Gegenteil: Weinberg instrumentiert überaus filigran, lässt dem gesungenen Wort den Vortritt, schafft subtil wirkende Stimmungen, weckt starke Emotionen.

Obgleich der Orchesterapparat riesig ist (Blech bin hin zur Tuba, das Holz bis zum Kontrafagott, dazu zwei Marimbas, Klavier und Harfe), wirkt das Meiste in Weinbergs Musik geradezu kammermusikalisch, von der Neuen Philharmonie Westfalen und dem auf höchstem Niveau singenden Solisten-Ensemble unter Leitung von Valtteri Rauhalammi eindrucksvoll umgesetzt – eine Inszenierung, die zum Besten gehört, was in Gelsenkirchen in den letzten Jahren zu erleben war. Weil hier einfach alles stimmte, zueinander passte, miteinander eine klare Botschaft zu verkünden hatte: „niemals vergessen!“

Riesenbeifall für Hanna Dora Sturludottir und Kor-Jan Dusseljee als Ehepaar Lisa und Walter, für Ilia Papandreou als standhafte Marta, Piotr Prochera als ihr nicht minder standhafter Verlobter Tadeusz. Alfia Kamalova, Anke Sieloff, Silvia Oelschläger, Noriko Ogawa-Yatake, Bele Kumberger, Almuth Herbst und Christa Patzer bilden ein fantastisches Ensemble, das sich auch darstellerisch grandios auf der Bühne bewegt. Sonderlob für Valtteri Rauhalammi, seit 2012/2013 1. Kapellmeister am Haus, der mit Präzision und ausgeprägter Musikalität die Fäden der Partitur perfekt zusammenführte.

  • Weitere Termine: 05.02.; 18.02.; 02.03.; 17.03.; 02.04.; 23.04.2017

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!